Mikez

Ein weiser Mann

Paul Mercurio als Josef in dem gleichnamigen Film »Joseph – A Bible Story« (USA 1994) Foto: ullstein bild - United Archives

Mikez

Ein weiser Mann

In Ägypten wird Josef ein anderer Mensch: vernünftig, zuverlässig und voller Fürsorge

von Rabbinerin Gesa Ederberg  18.12.2020 09:00 Uhr

Häufig fällt der Wochenabschnitt Mikez in die Chanukka-Woche, was dazu führt, dass in den Synagogen und Schulen mehr über Chanukka geredet und die Fortsetzung der Josefsgeschichte weniger genau studiert wird. Auch wenn die Erzählung von Josef in der Tora nicht die Länge von Thomas Manns Joseph-Roman hat, ist es doch bei Weitem die längste Erzählung zu einer Person, und die Verwicklungen und Wendungen der Geschichte sind auf jeden Fall eines Romans würdig.

Wir lesen diese Woche von einer der erstaunlichsten Karrieren überhaupt in der Tora. Zu Beginn der Geschichte sitzt der falsch angeklagte Haussklave des Potifar im Kerker, und dann wird er Regierungschef Ägyptens, die rechte Hand des Pha-raos und eigentlicher Herrscher über diese Supermacht des Altertums.

GEFÄNGNIS Josef machte diese Karriere, weil er zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle war. Er war im Gefängnis, als auch der Mundschenk des Pharaos dort einsaß. In der Parascha der letzten Woche deutete er die Träume des Mundschenks und des Bäckers, die sich beide bewahrheiteten.
Zwei Jahre später, als der Mundschenk schon längst wieder in Amt und Würden war, erinnerte er sich an Josef, denn der Pharao hatte zwei Träume, die keiner ihm deuten konnte.

Der erste zeigte ihm sieben fette, gesunde Kühe, die von sieben abgemagerten gefressen wurden, ohne dass die abgemagerten Kühe dabei gesund wurden. Im zweiten Traum sah er sieben volle Getreideähren, die von sieben mickrigen, vertrockneten Ähren verschlungen wurden.

Josef sah, im Unterschied zu den ägyptischen Traumdeutern, die beiden Träume als einen und konnte sie dem Pharao erklären als Folge von zweimal sieben Jahren. Die ersten werden reiche Ernte bringen, die folgenden aber Missernten.

Die Doppelung von zwei Träumen mit derselben Botschaft erklärt Josef noch ganz rabbinisch: Sie bedeutet, dass Gott entschieden hat, so zu handeln, und dass die zweimal sieben Jahre unmittelbar bevorstehen. Dann geht Josef aber über die reine Deutung hinaus und gibt dem Pharao einen Rat für die Umsetzung des Erkannten: »Und jetzt möge Pharao einen Mann finden, klug und weise, und ihn über das Land Ägypten setzen« (1. Buch Mose 41,33).

Die Kommentatoren des Mittelalters fragen sich, wie Josef dazu kommt, über die Deutung hinauszugehen und jetzt auch eine Handlungsanweisung zu geben. Awrawa­nel (um 1473 – nach 1560) schreibt in seinem Kommentar, dies sei ein Zeichen dafür, dass Josef eben nicht nur ein Traumdeuter ist, sondern tatsächlich ein Prophet – und ein Prophet »kann sich nicht zurückhalten, sondern muss alles sagen, was ihm aufgetragen ist«.

Klugheit und Weisheit sind dabei zwei verwandte, aber unterschiedliche Eigenschaften. »Chacham«, weise, kommt hier zum ersten Mal in der Tora überhaupt vor und bedeutet eine tiefe Einsicht in die Dinge, ein Verstehen, das die Einzelheiten in ein großes Ganzes zusammenfügen kann. »Nawon« dagegen meint den Verstand, der – wie Sforno (1475–1550) schreibt – das Erkannte auch praktisch umsetzen und aus dem großen Bild wieder einzelne, konkrete Schritte ableiten kann.

Nachdem Josef die Träume gedeutet und Handlungsbedarf aus ihnen abgeleitet hat, geschieht etwas sehr Bemerkenswertes: »Und die Sache war gut in den Augen des Pharaos.«

Damit nimmt die Geschichte eine Wendung. Auch die ägyptischen Traumdeuter hatten die Träume erklärt – eigentlich sogar mit derselben Methode wie Josef: als Metaphern für zukünftige Ereignisse. Der Midrasch ergänzt das mit Beispielen: Es könnten sieben Provinzen sein, die Pharao erobern würde – und sieben andere, die gegen ihn einen Aufstand planen.

Weder die eine noch die andere Erklärung beruht auf Fakten, beide werfen einen Blick in eine unklare Zukunft. Doch die »Wahrheit« der Interpretation zeigt sich für Pharao sofort. Es scheint, dass er mit dem Traum auch den Schlüssel zum Traum besitzt und dass diese zugrunde liegende Gewissheit durch die Erklärung Josefs sozusagen aktiviert wird.
Pharao erkennt die »Weisheit und Klugheit« in Josef und setzt diesen als Regenten ein, ohne Ansehen der Person, fast ein Wunder: Gerade noch im Kerker, steht Josef jetzt an der Spitze der ägyptischen Verwaltung.

REGENT Josef war ein hervorragender Regent, er regierte gerecht und zum Nutzen aller Ägypter. Insofern könnte man von einer besonders glanzvollen Variante des Aufstiegs eines armen Migranten reden.

Doch dann nimmt die Geschichte eine weitere spannende Wendung: Josef wird von seiner Vergangenheit eingeholt. Er war nämlich nicht völlig zufällig in einem ägyptischen Gefängnis gelandet. Als verzogener Liebling seines Vaters hatte er seine Brüder so sehr zur Weißglut getrieben, dass sie ihn an eine vorbeiziehende Karawane von Sklavenhändlern verkauften – und die Zeit in Gefangenschaft, zunächst als Haussklave und dann tatsächlich im Kerker, war wohl entscheidend für seine weitere Entwicklung: In Ägypten wurde Josef ein anderer Mensch, vernünftig, zuverlässig und für andere da.

Eines Tages dann tauchen seine Brüder auf. Die Hungersnot, die in Pharaos Träumen vorausgesagt wurde, ist so groß, dass sie auch Josefs Familie im Land Israel trifft. Jakow hört, es gebe noch Essen in Ägypten, und schickt seine Söhne dorthin.

Als Josefs Brüder vor ihm stehen und darum bitten, Essen kaufen zu dürfen, erkennen sie ihn nicht. Er aber erkennt sie sofort. Nach Jahrzehnten wäre nun der Moment der Vergeltung gekommen. Keine jugendliche Arroganz kann rechtfertigen, was seine Brüder ihm damals angetan haben.

Doch Josef sucht weder Vergeltung, noch offenbart er sich seinen Brüdern, sondern er stellt sie auf die Probe. Er will wissen, ob auch sie sich geändert haben, und er hat gelernt, geduldig zu sein. Bevor es schließlich zur tränenreichen Wiedervereinigung Josefs mit seinen Brüdern und seinem Vater kommt, müssen alle sich ihrer Vergangenheit stellen und sich ihre Fehler eingestehen, denn nur so ist wirkliche Versöhnung möglich.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.


inhalt
Paraschat Mikez erzählt von den Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen werden, und empfiehlt dem Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Dann heiratet Josef: Er nimmt Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters, zur Frau. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen.
1. Buch Mose 41,1 – 44,17

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025