Biografie

Anekdoten über einen Lehrer

Achtsamer Mentor: Rabbiner Adin Steinsaltz Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Biografie

Anekdoten über einen Lehrer

Yoel Spitz legt ein ungewöhnliches Buch über den großen israelischen Talmud­kommentator Adin Steinsaltz vor

von Yizhak Ahren  13.12.2022 18:15 Uhr

Durch eine neue, moderne Ausgabe des Babylonischen Talmuds, an der er jahrzehntelang gearbeitet hatte, wurde der israelische Rabbiner Adin Even-Israel Steinsaltz (1937–2020) weltberühmt. Er kommentierte auch andere Texte der jüdisch-religiösen Literatur und veröffentlichte mehr als 50 Bücher. Einige seiner Werke sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Steinsaltz war aber nicht nur ein emsiger Autor, sondern gleichzeitig ein engagierter Erzieher, der mehrere Bildungseinrichtungen gegründet und geleitet hat.

Einer seiner vielen Schüler, Yoel Spitz, setzt seinem Mentor jetzt ein literarisches Denkmal. Spitz hat keine gewöhnliche Biografie verfasst, sondern Anekdoten über Steinsaltz gesammelt, die Einblick geben in das Leben des genialen Lehrers. In kurzen Notizen berichtet der Autor, der Steinsaltz als 14-jähriger Gymnasiast das erste Mal traf und ihm bis zum Tod verbunden blieb, was er erlebt und gehört hat.

Taxifahrer So berichtet Spitz von dem Taxifahrer, der Steinsaltz regelmäßig gegen drei Uhr morgens von seinem Büro nach Hause fuhr: »Einmal erlaubte ich mir die Bemerkung: ›Herr Rabbiner, Sie zittern ja vor Müdigkeit. Sie sollten sich mehr schonen! Die Welt wird nicht einstürzen, wenn Sie mit der Arbeit schon um Mitternacht aufhören.‹ Worauf der stets bescheiden auftretende Rabbiner zu meiner Überraschung antwortete: ›Es gibt Dinge, von denen ich weiß, dass nur ich sie tun kann. Erfülle ich diese Aufgabe nicht, wird niemand sie an meiner Stelle machen.‹«

Für Spitz und für andere Zöglinge war Steinsaltz ein Lebensbegleiter, dessen Rat gern gesucht wurde. Ein typisches Beispiel: Als der Autor 17 Jahre alt war, beschlossen er und einige seiner Freunde, die Welt zu verbessern. Doch wie schafft man das? Die jungen Weltverbesserer wandten sich an Steinsaltz. Er nahm ihr Anliegen ernst und sprach anderthalb Stunden mit den Jugendlichen. Steinsaltz lobte die Gruppe, die sich Großes vorgenommen hatte, und gab praktische Tipps für den langen Marsch zur Weltverbesserung.

Es ist kein Zufall, dass Spitz den Beruf des Lehrers ergriffen hat. Einmal sagte Steinsaltz zu ihm: »Wenn du Religionsunterricht erteilst, sei vorsichtig, dass die Schüler am Ende nicht wie du aussehen!«

Konventionen Im ersten Augenblick fühlte sich Spitz beleidigt und fragte, was der Mentor ihm damit habe sagen wollen. Steinsaltz erläuterte, dass jeder Lehrer aufpassen müsse, die Schüler nicht an seine Konventionen zu fesseln: »Deine Aufgabe ist es, du zu sein! Versuche nie, Schüler in deine Richtung umzubiegen. Beim Unterrichten gibst du ihnen, was ihnen zusteht; sie werden nach ihrer Klugheit damit umzugehen wissen.«

Auch auf ungewöhnliche Fragen ging Steinsaltz ein. So wollte der fünfjährige Sohn des Autors einmal von Steinsaltz wissen, warum es in der Synagoge eine Abteilung für Männer gibt und eine für Frauen, aber keine für Hunde: »Das ist nicht fair – auch sie wollen beten!«

Die Rede des Jungen brachte Spitz vor seinem Lehrer in Verlegenheit – aber Steinsaltz erfand spontan eine kleine Geschichte, die den Kleinen zum Lachen brachte und die Erwachsenen zum Nachdenken.

hund Von einem Hund ist auch in einer weiteren Anekdote die Rede. Mit Tränen in den Augen wollte ein nichtreligiöser Schüler von Spitz wissen, ob man für einen Hund Kaddisch sagen darf: »Ich weiß, dass man für einen verstorbenen Verwandten Kaddisch sagt, und für mich war unser Hund, der gestern starb, ein Familienmitglied.« Spitz vertröstete den Jungen und bat seine WhatsApp-Gruppe um eine Lösung für das Problem. Von Steinsaltz kam ein origineller Vorschlag: Der trauernde Junge soll mit seinen Freunden Psalm 95 rezitieren, den Hunde nach dem Midrasch »Perek Shira« täglich aufsagen. So wurde statt des Kaddischs, das man nur für Menschen sagt, im Schulgottesdienst zur allseitigen Zufriedenheit ein zusätzlicher Psalm gesagt.

Seinem Buch hat Yoel Spitz eine Bemerkung des chassidischen Meisters Rabbi Nachman von Bratzlaw als Motto vorangestellt: »Die Menschen sagen, dass Anek­doten gut zum Einschlafen sind. Ich aber sage, dass man durch Anekdoten Menschen aus ihrem Schlaf weckt.« Die von Spitz kunstvoll erzählten Anekdoten über Steinsaltz sind sowohl unterhaltsam als auch sehr lehrreich – sie können dem Leser einen Ruck geben.

Yoel Spitz: »A Good Story Starts in the Middle. Inspiring Moments with Rabbi Adin Even-Israel Steinsaltz«. Yedioth Ahronoth Books and Chemed Books, Rischon LeZion 2022, 256 S., 112 NIS

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