Kommentar

Justiz: Im Zweifel für Antisemitismus?

Michael Thaidigsmann, Redakteur der Jüdischen Allgemeinen Foto: Privat

Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gilt für alle. Selbstverständlich haben auch Staatsdiener das Recht, im familiären Umfeld und im engeren Freundeskreis ihre politischen und sonstigen Auffassungen kundzutun, zur Not auch polemisch.

Aber darf ein Polizeibeamter, der tagsüber eine der prominentesten Jüdinnen des Landes schützen soll, abends antisemitische Hetze verbreiten und die Verbrechen in der NS-Zeit gutheißen? Darf er die Deportation von Menschen in Konzentrationslager befürworten? Von Menschen, die wie Charlotte Knobloch selbst den Holocaust überlebt haben und auch heute noch massiven antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind?

Die Antwort ist banal: Ja, darf er.

Der Verwaltungsgerichtshof München hat jetzt einem Kripo-Beamten, den das Polizeipräsidium München wegen mehrfacher Hass-Posts in diversen Einzel- und Gruppenchats rauswerfen wollte, die Rückkehr in den Polizeidienst ermöglicht. Die einzige Sanktion, mit der der Mann zu leben hat: Er wurde um einen Dienstrang zurückgestuft; in erster Instanz befand das Verwaltungsgericht München noch auf eine Rückstufung um zwei Dienstgrade.

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Grund dafür sind aber nicht etwa die »offen verfassungsfeindlichen« Äußerungen des Beamten, die die obersten bayerischen Verwaltungsrichter konstatierten. Nein, es waren einfache »Dienstvergehen«, darunter die Weitergabe von Informationen an Dritte, die ausschlaggebend waren.

Die Aussage »Nur Kanacken im Zug« ließen die Richter dem 45-Jährigen durchgehen. Sie stelle zwar »eine Abwertung von Ausländern« dar. Allerdings schütze das Grundrecht auf Meinungsfreiheit auch »Äußerungen, die sich als wahr oder unwahr erweisen, begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos« seien.

Nun könnte man sagen: In dubio pro reo, im Zweifel für den Beschuldigten. So lautet eines der wichtigsten Prinzipien unseres Rechtstaats, das auch die Verwaltungsrichter anwandten. Doch Zweifel gab und gibt es hier keine. Die antisemitischen, rassistischen und NS-verherrlichenden Inhalte aus den WhatsApp-Chats waren gut dokumentiert. Der Kripo-Beamte hatte sie im Verfahren eingeräumt und versucht, sie als bedauerliche Fehltritte zu entschuldigen.

Der VGH München folgte seiner Argumentation fast vollständig. Die Äußerungen seien nicht nur von der Meinungsfreiheit, sondern auch vom Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gedeckt. Der Einzelne müsse einen Raum haben, »in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann«, schrieben die Richter. So solle ein »rückhaltloser Ausdruck« von »Emotionen, die Offenbarung geheimer Wünsche oder Ängste, die freimütige Kundgabe des eigenen Urteils über Verhältnisse und Personen oder eine entlastende Selbstdarstellung möglich« sein.

Freibrief für Antisemiten im Staatsdienst

Mit anderen Worten: Üble Hetze gegen jüdische Menschen und selbst gegen Personen, für deren Schutz man dienstlich zuständig ist, muss auch Polizisten erlaubt sein, solange das im privaten Kreis geschieht. Man muss nur sicher stellen, dass die Sache nicht an die Öffentlichkeit gerät.

Aber auch hier sind die Münchner Verwaltungsrichter nachsichtig. Zwar ist ihnen nicht entgangen, dass auch vertrauliche Äußerungen Rückschlüsse auf eine möglicherweise verfassungsfeindliche Gesinnung eines Beamten geben können und dass das Beamtenstatusgesetz hohe Maßstäbe an Staatsbedienstete anlegt. So sind die verpflichtet, sich »durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes« zu bekennen und aktiv für deren Erhaltung einzutreten.

Doch im vorliegenden Fall setzten die Richter die Hürde dafür sehr hoch an. Das bloße Haben und das Mitteilen einer nicht verfassungstreuen Überzeugung im privaten Umfeld stelle selbst bei einem Kriminalpolizisten nicht unbedingt einen Verstoß gegen dessen Pflicht zu verfassungstreuem Verhalten dar.

Absurd liest sich streckenweise die Begründung des VGH. Weil gerade für Jugendliche und »jüngere Menschen« die Kommunikation via WhatsApp von zentraler Bedeutung sei und Emojis, Memes, Sprachmemos und Insider-Witze als Form der »Selbstdarstellung« dienten und »zur Gruppen- und Freundschaftsbindung« beitrügen, stünden sie unter dem Schutz des Grundgesetzes. Wie dies das offenkundig gravierende Fehlverhalten eines erwachsenen Polizisten rechtfertigen kann, bleibt das Geheimnis der Richter.

Jedenfalls hat der Münchner Verwaltungsgerichtshof einen Freibrief an alle Antisemiten im Staatsdienst ausgestellt. Denn die Botschaft dieses Beschlusses ist klar: Im privaten Bereich ist so ziemlich alles gestattet. Das Vertrauen in Polizei und Rechtsstaat wird damit gewiss nicht gestärkt, im Gegenteil.

Muss man sich noch wundern, wenn viele Juden in Deutschland Angst davor haben, antisemitische Hetze zur Anzeige zu bringen?

Wenn sie sich nicht richtig beschützt fühlen durch staatliche Institutionen?

Wenn Polizeibeamte sich womöglich in ihrer Freizeit selbst solche judenfeindliche und rassistische Äußerungen zu eigen machen – natürlich nur zum Zweck der Gruppen- und Freundschaftsbindung?

Man kann nur den Kopf schütteln ob der seltsamen Argumente, die vom VGH München herangezogen wurden, um den Polizisten im Staatsdienst zu halten. Charakterlich scheint er angesichts der Chats nun wirklich ungeeignet dafür.

Die deutsche Justiz hat ein Problem: Ab und zu versagt sie gewaltig bei der Bekämpfung von Antisemitismus. Der VGH-Beschluss sollte Anlass sein, dieses Thema einmal eingehender zu diskutieren.

Der Autor ist EU-Korrespondent der Jüdischen Allgemeinen.

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