Jüdisches Museum Berlin

Die Schublade öffnen

Seit zwei Jahren lebt Ayub Shekan mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin. Die Familie stammt aus dem Norden Iraks, ihre Heimatstadt Kirkuk liegt in einer erdölreichen, multiethnischen Region. Kurden, Turkmenen und Araber, Sunniten und Schiiten leben hier. Außerdem auch christliche Assyrer, Jesiden und Kakai.

In das von Konflikten gebeutelte Land zurückzukehren, kann sich die Familie nicht vorstellen. Sie wollen in Deutschland bleiben, sich hier eine Zukunft aufbauen. Am liebsten in einer weltoffenen Stadt wie Berlin, sagt Ayub Shekan. Was er an Berlin unter anderem so schätze, seien die vielen nichtreligiösen Menschen. »Ohne Religion ist es am besten«, sagt der 59-Jährige. Das denkt er bereits seit vielen Jahren. Schon lange bevor Anhänger des sogenannten Islamischen Staats in der und um die Millionenstadt herum kämpften, explodierten in Kirkuk fast täglich Sprengsätze. Selbstmordattentäter jagten sich in die Luft und rissen Menschen in den Tod. Ob in seiner Heimatstadt irgendwann Frieden einkehrt, weiß Shekan nicht.

Im Jüdischen Museum Berlin hat der Familienvater nun die Möglichkeit bekommen, seine Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten. Vor sieben Monaten startete dort das Kunst- und Begegnungsprojekt »Der Blaue Raum«, an dem 20 Künstler und Kunstinteressierte aus zwölf Nationen teilnahmen. Das Ergebnis des seit Januar andauernden Schaffensprozesses ist seit Anfang Juli in der gleichnamigen Sonderaus-
stellung zu sehen.

engagement Es war Orly Goldenberg, die Ayub Shekan dazu motiviert hat, an dem Projekt teilzunehmen. Die 21-Jährige engagiert sich seit zwei Jahren ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft: Tagein, tagaus ist sie im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf zugegen, wo etwa 1200 Männer, Frauen und Kinder untergebracht sind. Sie übersetzt dort aus dem Russischen ins Deutsche, hilft bei Behördengängen – und ist für die Menschen im Alltag da. So auch für Familie Shekan, für die sie unter anderem eine Wohnung organisiert hat. Es ist eine Bleibe für zwei Jahre. Ein Jahr davon ist bereits um.

Es ist Freitagvormittag. Ayub Shekan und Orly Goldenberg haben auf einer Bank im Ausstellungsraum des Jüdischen Museums Berlin Platz genommen. Während auf einer Leinwand die Videoinstallation »Untitled (Nil Darpan)« in Dauerschleife abgespielt wird, sprechen sie über Kunst, Freundschaft und Religion. Und die Zukunft. Die Studentin für Medien und Eventmanagement wünscht sich, dass die Familie aus dem Irak dauerhaft in Deutschland bleiben darf.

Doch bisher sei die Sache alles andere als klar. Der Asylantrag wurde abgelehnt, die Klage gegen den Bescheid eingereicht, sagt Orly Goldenberg. Sie kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. »Ich finde es schade, wenn Menschen, die sich engagieren, keine Chance bekommen.« Sie beobachte, wie Ayub Shekans Kinder in Berlin Fuß fassen, auch seine Frau lerne fleißig Deutsch.

ölfarben In Kirkuk habe er als Autolackierer gearbeitet, erzählt der 59-Jährige. »Ich habe mir mit meiner Arbeit einen Namen gemacht.« Er holt sein Handy aus der Hosentasche, wischt übers Display und zeigt die Ergebnisse seines Handwerks. Außerdem habe er Werbeplakate gestaltet – »wir machen das bei uns alles ohne Computer, nur per Hand« – und Möbel mit Ornamenten verziert.

Im Rahmen des Prokjets »Der Blaue Raum« hat er unter anderem an großformatigen Landschaftsbildern gearbeitet. »Ich habe die Ölfarben dabei immer selbst gemischt«, sagt Ayub Shekan. Darauf legt er großen Wert. Fast täglich sei er zum Malen ins Museum gekommen. »Ich habe das seit 22 Jahren nicht mehr gemacht.« Einmal war er in seine Arbeit so sehr vertieft, dass er sogar eingeschlossen wurde. Nur durch lautes Klopfen an der großen Eingangstür habe er Polizei und Security auf sich aufmerksam machen können.

Seine bunten Impressionen – darunter auch eine Karte seines Landes, das bedroht wird von Feuer und einem Drachen – hängen an einer blauen Wand. Er teilt sich die atelierartige Ecke des Raums mit zwei weiteren Männern, Michael aus Ägypten und Živa Kovazev aus Serbien. Wie Ayub Shekan wissen beide nicht, ob sie in Deutschland je politisches Asyl bekommen werden.

Das ungewisse Schicksal der in Berlin gestrandeten Flüchtlinge beschäftigt Orly Goldenberg sehr. Ihre Erfahrungen hat sie ebenfalls in einem Exponat verarbeitet. Ihre Skulptur besteht aus zwei Torten-Modellen – auf der linken Seite steht ein goldglänzendes mit weißer Taube, auf der rechten ein finster gehaltenes, das von einem schwarzen Drachen gekrönt wird. Beide Seiten sind durch eine Brücke miteinander verbunden. Sie symbolisiere das Leben im Ungewissen, erklärt die Studentin. »Ich stehe hier«, sagt sie und zeigt auf die Mitte der Brücke, »dort, wo auch viele Flüchtlinge stehen.«

Religion Die 21-Jährige hat einen Wunsch: dass sich noch mehr Juden wie sie für Flüchtlinge engagieren. Verwandte, die in Israel leben, würden sie für ihr Engagement stark kritisieren. Sie hegten Vorurteile gegenüber Muslimen. »Ich sage immer: Lerne die Menschen kennen. Rede eine Stunde mit ihnen. Erst dann kannst du dir deine Meinung bilden«, sagt Orly Goldenberg. Religion provoziere Schubladendenken, findet sie. »Du musst die Schublade aber öffnen.«

Zwischen ihr und Ayub Shekan sei Religion nie ein Thema gewesen. In der Flüchtlingsunterkunft sei das allerdings nicht immer der Fall. Sie habe aufgrund ihres Jüdischseins auch Ablehnung erfahren. Trotzdem wolle sie den Menschen ihre Hilfe anbieten, wenn sie welche benötigten. »Schwul, Muslim, Jude – das ist doch total egal«, sagt sie.

Den religiösen Konflikt in seiner Heimat kann Ayub Shekan aus seiner persönlichen Erfahrung nicht nachvollziehen. »Ich bin Schiit und Kurde, meine Frau ist Turkmenin und Sunnitin. Wir sind seit 24 Jahren verheiratet – und es gibt kein Problem.«

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