Erfahrungen

Skepsis ist Teil des Glaubens

Holocaust Memorial Day in Budapest am 16. April 2013: Erinnerung an die ermordeten Juden Foto: dpa

Erfahrungen

Skepsis ist Teil des Glaubens

Rabbiner Joel Berger über seine Kindheit, die Schoa und den Umgang mit Ängsten von damals

von Rabbiner Joel Berger  08.02.2016 18:32 Uhr

Ich bin im Jahr 1937 in Budapest geboren. Kurz nach meiner Geburt erließ Ungarn antijüdische Gesetze, die das Leben meiner Eltern und auch mein Leben erheblich beeinflussten. So wurden noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, noch vor der Wannsee-Konferenz, etwa 20.000 Juden nach Galizien (Kamenez-Podolsk) abgeschoben, wo sie ermordet wurden.

In Novi Sad warf man 1941 Tausende Juden und Serben in die Donau. 1944 wurden wir ins Ghetto gesperrt. Wir hatten noch das Glück, dass wir ins »internationale Ghetto« kamen, das durch den schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg »geschützt« war. Geschützt muss deshalb in Anführungszeichen gesetzt werden, weil uns nur wenig Schutz zuteil wurde.

1945 wurde Budapest von der Roten Armee befreit. Dennoch lebte ich weiterhin zwischen den Tätern. Nicht einer unserer Nachbarn hatte es nötig zu sagen: »Entschuldigung, das tut uns leid. Das wollten wir so nicht.« Nicht ein einziges Mal habe ich ein Wort des Bedauerns gehört.

Kommunismus Die Befreiung war auch aus anderen Gründen von kurzer Dauer. Durch die Machtergreifung der Kommunisten wurde ab dem Jahr 1947/48 jegliche private Initiative und freie Entfaltung der Menschen unterdrückt. In der Grundschule und danach im Gymnasium wurde ich wieder gebrandmarkt. Diesmal nicht direkt als Jude, sondern als Bourgeois, als Angehöriger der »gehobenen sozialen Klasse« der Gesellschaft, was im Sozialismus der »Klasse des Proletariats« gegenüberstand.

Aus diesem Grunde wurde ich nach meinem Abitur nicht zu einem Universitätsstudium zugelassen, sondern musste in einer Fabrik eine handwerkliche Ausbildung beginnen. Erst danach durfte ich mich an der Universität bewerben – jedoch nicht in der Hauptstadt Budapest, sondern in Szeged in Südungarn.

Meine Studienzeit war kurz, weil 1956 die Revolution ausbrach. Nach einem Fluchtversuch aus dem Land wurde ich von der Universität entfernt und rechtskräftig wegen Republikflucht verurteilt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis habe ich ein sechsjähriges Studium am Budapester Rabbinerseminar begonnen und war danach als Rabbiner in Hódmezovásárhely tätig.

Die politischen Verhältnisse in Ungarn in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre spielten mir dann übel mit. So sollte ich nach dem sogenannten Sechstagekrieg, den Israel 1967 gegen die arabischen Nachbarn führte, eine Erklärung unterschreiben, die Israel als Aggressor verurteilte. Die Unterschrift verweigerte ich, daraufhin wurde ich von meiner Stelle entfernt.

Freiheit Nach vielen Demütigungen und Erniedrigungen wurde 1968 meine Ausreise in die Bundesrepublik vom Innenministerium überraschend genehmigt. Und von da an hat mein Leben eine entscheidende Wende genommen. Im Kontrast zu den schlimmen Erfahrungen in Ungarn durfte ich groteskerweise in der Bundesrepublik die Freiheit erleben.

Hier in diesem Lande wurde ich im Sinne einer Verfassung, die die Würde des Menschen obenan stellt, als Mensch geachtet und wurde auch dementsprechend behandelt. Ich betrachte das als große Gnade und Geschenk meines Lebens. Das Judentum lässt keine Kollektivschuld gelten. Ich habe Deutschland nicht nur als das Land der Täter erlebt, sondern auch als das Land, wo es anständige Menschen gab, von denen manche sogar Menschenleben gerettet hatten.

Vergangenheit kann man nicht bewältigen, Vergangenheit muss man immer wieder vergegenwärtigen. Angesichts der jüdischen Vergangenheit ist das eine große jüdische Tradition. Der Mensch ist nicht auf Dauer immun. Wie in der Medizin braucht er ab und zu eine unangenehme Spritze, um die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

Das Erlittene kann man überhaupt nicht verarbeiten. Niemals kann ich es vergessen, niemals kann ich es aus meinem Gedächtnis, aus meinem Bewusstsein löschen. Dass ich einer der ganz wenigen bin, die aus unerklärlichen Gründen am Leben geblieben sind, beeinflusst mein heutiges Dasein. Das prägt mich bis zum heutigen Tage. Wenn ich so etwas erlebe wie das neonazistische Morden einer Gruppe, mag sie noch so klein sein, dann kommen die Erlebnisse jener Zeit wieder hoch.

Wenn Gewalt aus einer Richtung droht, wenn Menschen aus Unvernunft, Uneinsichtigkeit oder aus Vorurteilen Angst schüren, erwischt mich die Angst. Auch wenn – rational gesehen – die demokratischen Regeln dieses Landes Schutz bieten, sodass ich eigentlich keine Angst haben müsste.

Träume Und ich muss immer wieder feststellen, dass die Demütigungen und Erniedrigungen, die ich erlitten habe, nicht zu bewältigen, nicht zu verarbeiten sind. In der Nacht kommen unerwartet böse Träume, die Vergangenheit schlägt dann zurück, und plötzlich befinde ich mich wieder in einer bedrohlichen Lage.

Deshalb sage ich: Ich kann die heutige Welt bejahen, aber ich kann nichts bewältigen, ich kann nichts verarbeiten. Und vor allem bin ich nicht befugt, im Namen und anstelle der Ermordeten zu vergeben. Weder vergeben noch vergessen kann ich. Aber ich bemühe mich, die Menschen von heute von der positiven Seite wahrzunehmen, ihnen offen und freundlich zu begegnen.

Manchmal bin ich dort zu vorsichtig, zu misstrauisch oder zu zurückhaltend, wo ich es nicht sein sollte. Die Erfahrungen arbeiten ständig. Selbst wenn ich mich bemühe, diese Erfahrungen zu verdrängen, gelingt es mir nicht immer. Wenn ich zu skeptisch, zu ablehnend reagiere, gibt es zum Glück mir nahestehende Menschen, die mir behilflich sind, das wieder auszubalancieren.

Habe ich jemals an meinem Glauben gezweifelt? Um ehrlich zu sein: Die Skepsis ist ein Teil des Glaubens. Ich beneide jeden, der von sich behaupten kann, dass er immer, ohne zu wanken, ohne nach rechts oder links zu schielen, unerschütterlich glaubt. Ich kann es nicht. Und ich glaube, die meisten Juden können es auch nicht.

diktatur Der Glaube ist mit der Skepsis verbunden. Das war immer der Fall und ist auch bei mir ein Teil des Glaubens. Die Fragen, die quälen, die menschlichen Fragen – wie war das alles möglich? – sind selbstverständlich immer da. Und es gibt hierauf keine einfachen und monokausalen Antworten. Eine Diktatur missbraucht Menschen immer für ihre Zwecke. Und Menschen meinen dann, dass sie für ihr Wohl oder für das Wohl ihrer Familie Gewalt ausüben dürfen.

Wenn Menschen den Eindruck haben, dass sie benachteiligt werden, dass sie keine Perspektive haben, sind sie zu allem fähig. Wenn sie der Meinung sind, dass irgendeine Gruppe besser an die Güter der Gesellschaft herankommt, dass diese Gruppe sie verdrängt, nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, diesen Zustand mit Gewalt zu ändern.

Als Kämpfer für ihre vermeintliche Wahrheit kennen sie keine menschlichen Hemmungen mehr. Das haben wir bei allen Diktaturen erlebt, insbesondere dann, wenn Menschen vorgegaukelt wird, dass sie für ein höheres Ziel kämpfen.

Der Autor ist 1937 in Ungarn geboren und war Landesrabbiner von Württemberg. Sein Text »Weder vergeben noch vergessen kann ich« ist in dem Sammelband erschienen: »Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten«, herausgegeben von Harald Roth, Random House 2014, 14,99 €. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

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