Berja

Das gʼttliche Krabbeln

Foto: Getty Images/iStockphoto

An Tu Bischwat essen Juden auf der ganzen Welt Früchte, um den Geburtstag der Bäume zu feiern. Bevor wir aber die frischen Früchte genießen können, sollen wir darauf achten, dass wir keine kleinen Käfer, Läuse oder sonstige Krabbler mitessen, die sich in Blattspalten, unter Schalen oder in Kernen eingenistet haben. Dieses Prüfen heißt in der Halacha »Bedikat Tolaim«.

Das Verbot, Ungeziefer zu essen, geht auf die Tora zurück, wo uns mehrfach befohlen wird, keine Scheratzim zu essen, was frei mit Krabbeltiere übersetzt werden kann und eine übergreifende Kategorie ist, die Nagetiere, Reptilien und Insekten umfasst. Es ist heute zwar unwahrscheinlich, dass ich eine Maus zwischen meinen Orangen finde, aber wir alle haben schon die Erfahrung gemacht, dass man einen frischen Bio-Apfel oder eine Kirsche aufschneidet und einem dann ein kleiner Wurm entgegenblickt.

Im Zusammenhang mit dem Verbot, Ungeziefer zu essen, steht das Verbot, etwas im Ganzen zu essen: »Berja« heißt dieses faszinierende Konzept. Das Wort »Berja« ist schwer zu übersetzen, aber ich würde es als ein Geschöpf Gʼttes – Briat Haschem wiedergeben.

Was bedeutet dieses Konzept konkret? Wenn zum Beispiel der Fuß einer Maus versehentlich in meinen riesigen Topf mit Hühnersuppe fällt, wird die Suppe tatsächlich nicht unkoscher, solange sie mehr als 60-mal so groß ist wie der Fuß der Maus – auch wenn sie vielleicht nicht besonders appetitlich ist. Dieser Prozess der Aufhebung, der Nullifizierung im 60-Fachen (auf Hebräisch: »batel be-schischim«), funktioniert in den meisten Bereichen der Kaschrutgesetze. Aber wenn eine ganze Ameise oder ein ganzer Käfer in meine Suppe fällt, wird die Suppe unkoscher, selbst wenn sie zu dem Krabbeltier im Verhältnis 1000:1 steht. Denn das ganze Tier ist eine Berja.

Der Talmud und spätere halachische Autoritäten notieren, was eine Berja ausmacht: Sie muss zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Seele gehabt haben. Eine Berja muss vom Moment ihrer Entstehung an verboten sein. Eine Berja muss ganz sein. Eine Berja, die in zwei Hälften geteilt wird, muss ihren Namen verlieren. Wenn man zum Beispiel eine Ameise in zwei Hälften schneidet, heißt sie nicht mehr Ameise, sondern halbe Ameise! Was bedeuten diese Regeln? Warum ist dieses ganze, verbotene Lebewesen nicht nullifizierbar, nicht in einer Masse auflösbar?

Ich denke gern, dass wir, wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das sich in dem Zustand befindet, in dem Haschem es geschaffen hat, tatsächlich mit einem kleinen Stück Gʼttlichkeit in dieser Welt konfrontiert sind – auch wenn wir es nicht essen können. Ameisen, Fliegen und anderes Ungeziefer mögen vielleicht ein wenig, wie meine jüngste Tochter sagt, »eklig« erscheinen, aber sie sind dennoch von unserem gemeinsamen Schöpfer geschaffen worden.

Und so wie diese Käfer, wenn sie in eine Mischung geworfen werden, nicht nullifiziert werden können, auch nicht im Verhältnis 1000 zu eins, so sind auch wir, als Geschöpfe von Haschem, nicht nullifizierbar. Selbst wenn wir in eine Mischung von Menschen in einer Stadt wie Berlin oder einem Land wie Deutschland geworfen werden, können unsere Gedanken und unsere Gefühle, unsere Traditionen und unser Glaube niemals in der Masse aufgelöst werden.

Im Zeitalter der modernen Wissenschaft wissen wir natürlich, dass mikroskopisch kleine Geschöpfe überall herumkriechen. Aber kein Grund zur Sorge! Wichtige religiöse Entscheidungsträger haben festgestellt, dass es nur verboten ist, Lebewesen zu essen, die man sehen kann. Diejenigen, die so winzig sind, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann, scheinen nicht den Status einer Berja zu haben.

Das bedeutet für mich, dass wir, wenn wir als Juden nicht nullifizierbar bleiben wollen, wenn wir einzigartig, nicht assimiliert und wir selbst bleiben wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass wir gesehen werden.

Waschen Sie also an diesem Tu Bischwat Ihre Früchte besonders gründlich. Aber achten Sie auch darauf, Ihre Einzigartigkeit zu feiern, das Besondere an Ihnen und an unserem Volk, das uns zu dem macht, was wir sind, das uns sichtbar macht. Und wenn wir unsere Mazze essen, unser Schofar blasen, unsere Chanukkiot anzünden oder unseren Freunden Früchte bringen, feiern wir nicht nur den Geburtstag der Bäume, sondern auch uns selbst, als Geschöpfe Haschems, und es gibt kein größeres Fest als das.

Radebeul

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