Dokumentation

Unmögliche Wiedergutmachung

Das Wort »Wiedergutmachung« ist in Bezug auf die Schoa eine Zumutung. Es beinhaltet naive Sichtweisen auf den Umgang mit dem Zivilisationsbruch der Nazis und dessen moralische wie juristische Folgen. Erstaunlicherweise steht es dennoch im Mittelpunkt der Luxemburger Abkommen von 1952.

Damals unterzeichneten der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer, der israelische Außenminister Moshe Sharett sowie Nahum Goldmann als Vertreter der Jewish Claims Conference nach nervenaufreibenden Verhandlungen ein spektakuläres Vertragswerk.

holocaust-überlebende Deutschland verpflichtete sich vor 70 Jahren zu Zahlungen sowie der Lieferung von Exportgütern im Wert von über drei Milliarden D-Mark an Israel. Die Adenauer-Regierung bekannte sich dazu, Holocaust-Überlebende individuell zu entschädigen und Vermögenswerte zurückzuerstatten.

Zum ersten Mal übernahm ein Staat umfassende Verantwortung für einen Genozid in Form dauerhafter materieller Entschädigungsleistungen.

Juristisch eine Sensation. Zum ersten Mal übernahm ein Staat umfassende Verantwortung für einen Genozid in Form dauerhafter materieller Entschädigungsleistungen. Aufsehenerregend war auch die Tatsache, dass alle drei unterzeichnenden Parteien vor dem Krieg noch gar nicht existiert hatten. Israel, die Bundesrepublik Deutschland und die 1951 gegründete Claims Conference bewegten sich auf komplettem Neuland.

Mission Für den Staat Israel war das Geld überlebenswichtig, um eine Vielzahl von Einwanderern zu versorgen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land strömten. Zudem bewahrte es die fragile Wirtschaft vor dem drohenden Kollaps. Ministerpräsident David Ben Gurion nahm dafür heftige Proteste in Kauf – bis hin zu wilden Tumulten in der Knesset.

mission Konrad Adenauer betrachtete es als persönliche historische Mission, gegen den Widerstand vieler Abgeordneter und Minister im Deutschen Bundestag, dieses Abkommen durchzusetzen. Im Zuge seiner Entscheidungen wurde sogar ein Briefbombenattentat auf ihn verübt, das einen Mitarbeiter das Leben kostete. Allerdings vertraute auch Adenauer pathetisch auf die fatale Rhetorik der »Wiedergutmachung«. Bis heute wird sie in der deutschen Politik mit einem gewissen strategischen Stolz verwendet.

Die Jewish Claims Conference spricht hingegen lediglich von »Kompensation«, wie es ihr Präsident Gideon Taylor betont. In den 50er-Jahren Jahren befürwortete nur ein kleiner Teil der deutschen Bevölkerung die Entschädigungszahlen. Im Laufe der Jahre hat die Bundesregierung nach Angaben der Claims Conference 90 Milliarden Dollar Entschädigung an jüdische Opfer des NS-Regimes bezahlt. Politische Verantwortung und kollektive Einsichten gehören in dem Fall also nicht unbedingt zusammen.

Der neue Dokumentarfilm Reckonings der amerikanischen Regisseurin Roberta Grossman, in einer Preview im Berliner Delphi Filmpalast vorgestellt, beleuchtet nun die schwierige Geschichte hinter dem komplexen Vertragswerk. Finanziert haben den Film die Jewish Claims Conference und das deutsche Bundesministerium für Finanzen. Darin liegt möglicherweise ein Problem.

Es sind die Stimmen der Überlebenden, die zum Nachdenken zwingen.

Einerseits zeigt der Film viele historische Details und Anekdoten. Das zunächst feindselige Schweigen bei den ersten Begegnungen der Delegationen aus Israel und Deutschland in dem niederländischen Schloss Wassenaar, das Ringen um die gemeinsame Verhandlungssprache und das nächtliche Treffen zwischen Nahum Goldmann und Konrad Adenauer in einem Londoner Hotel werden eindrucksvoll dokumentiert.

Andererseits ermöglicht der Film deutschen Politikern wie Wolfgang Schäuble staatstragende Auftritte, unterlegt mit dramatischer Geigenmusik. Die Entschädigungsmaßnahmen werden als großartige Erfolgsgeschichte präsentiert. Adenauers schützende Hand über ehemalige Nazigrößen wie seinem Kanzleramtschef Hans Globke kommt dabei ebenso wenig zur Sprache wie der bis heute präsente Antisemitismus in Deutschland.

Moral Es sind die Stimmen der Holocaust-Überlebenden im Film, die herausragen und zum Nachdenken zwingen. Wenn die fast 100-jährige Helena Weinrauch davon erzählt, wie man ihr ein Leben lang abgeraten hatte, dieses Geld aus Deutschland zu nehmen, das viele in Israel als »Blutgeld« bezeichneten. Oder wenn die Auschwitz-Überlebende Irene Weiss berichtet, wie demütigend es für Überlebende in ihrer Familie gewesen sei, den Nachweis führen zu müssen, überhaupt berechtigt zu sein, Entschädigung zu erhalten.

Hier spürt man, dass es nicht um Moral oder Recht geht, sondern um Lebensgeschichten, die ohne die Schoa gänzlich anders verlaufen wären. Die zukünftig geplante Digitalisierung und Offenlegung der damaligen Akten werden weitere Details zutage fördern, wie mühsam es für viele Überlebende war, sich in den zähen bürokratischen Verfahren ein Mindestmaß an Kompensation zu sichern.

Die Luxemburger Abkommen sind ein Meilenstein politischer Verantwortungsübernahme. Als moralisches Rechtfertigungszeugnis taugen sie nicht. Der über weite Strecken sehr gelungene Film Reckonings zeigt im Abspann das Logo des Bundesministeriums der Finanzen. Daneben prangt das Wort »Wiedergutmachung«. Es sind diese Widersprüche zwischen Recht, Sprache und Empathie für individuelle Schicksale, welche die Luxemburger Abkommen bis heute prägen.

Verantwortung Bei der Vorpremiere des Films sagte der langjährige Chefunterhändler der Claims Conference, Stuart Eizenstat, Deutschland müsse »eine historische Mission« vollenden. Er spielte dabei auch auf die Hilfe für die Holocaust-Überlebenden an, die aus der Ukraine fliehen. Es sei eine Ironie der Geschichte, dass sie am Ende ihres Lebens nach Deutschland flüchteten.

Spannend bleibt die Frage, ob die Luxemburger Abkommen etwas historisch Einmaliges sind oder ein Vorbild sein können für den Umgang mit historischer Schuld.

Gleichzeitig sei es ein Zeichen, wie grundlegend sich die Verhältnisse in Europa geändert haben. Die Luxemburger Abkommen, so Eizenstat, seien nicht nur historische Dokumente. Die Verantwortung für die Biografien der Überlebenden ist nicht zu Ende. In Zukunft wird es vor allem um die Frage gehen, wie nach der Ära der Zeitzeugen an den Holocaust erinnert werden kann. Die Erinnerung wachzuhalten, wird Aufgabe dieser Mission bleiben.

Spannend bleibt auch die Frage, ob die Luxemburger Abkommen etwas historisch Einmaliges sind oder ein Vorbild sein können für den Umgang mit historischer Schuld. Das betrifft nicht nur die Kolonialdebatte, sondern auch die Ansprüche von Opfergruppen der NS-Zeit in anderen europäischen Ländern. Gerade die Betonung des juristischen Charakters dieses Vertragswerks legt die Diskussion nahe, ob dies nun eine umfassende Verantwortungshaltung ist oder eine spezielle. Die Luxemburger Abkommen haben eine Logik entworfen, die beeindruckend klar ist. Sie sollte kein zeitliches Limit haben.

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