Frankfurt am Main

Auschwitz verblasst - Gerichtsdokumente erinnern an das Grauen

Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Foto: picture alliance / Sammlung Richter

Auschwitz war für viele Nachkriegsdeutsche lange nur ein Wort ohne Bedeutung. Auschwitz, das ist auch heutzutage für viele, insbesondere junge Europäer kein Begriff mehr, mit dem sie etwas anfangen können. Nach einer im Januar veröffentlichten Umfrage der Jewish Claims Conference hat gut jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland noch nie etwas von Holocaust oder Schoa gehört - auch wenn das Auschwitz-Drama »The Zone of Interest« 2023 in der Kinowelt für Furore sorgte.

Dass das größte NS-Vernichtungslager überhaupt ins Bewusstsein der Nachkriegsdeutschen gelangte, hat wesentlich mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess zu tun, der vor 60 Jahren zu Ende ging. Am 19. und 20. August 1965 wurden die Urteile im bis dahin wichtigsten Verfahren gegen NS-Verbrecher vor einem deutschen Gericht verkündet. Die Nachkriegsgesellschaft wurde seit Prozessbeginn im Dezember 1963 schonungslos mit dem Völkermord konfrontiert.

Historiker sind sich einig: Das Bemerkenswerteste an diesem Prozess war, dass er überhaupt zustande kam. Denn nach den von den Siegermächten organisierten Kriegsverbrecher-Prozessen von Nürnberg hatten deutsche Richter nur wenige Mörder zur Verantwortung gezogen. Hochrangige Nazis machten in Justiz und Politik wieder Karriere. Die Bevölkerung sehnte sich nach einem Schlussstrich.

Weder Scham noch Reue

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Motor des Prozesses, hatte es bereits im Vorfeld geahnt: Keiner der Angeklagten würde sich schuldig bekennen. »Ich glaube, Deutschland würde aufatmen und die gesamte Welt und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind, wenn endlich einmal ein menschliches Wort fiele. Es ist nicht gefallen und es wird auch nicht fallen«, sagte er mit einiger Verbitterung.

Angeklagt wurden zunächst 24 Männer, unter ihnen zwei Adjutanten der Lagerkommandanten, Mitglieder der Lager-Gestapo, Aufseher und Sanitäter, KZ-Ärzte. 183 Verhandlungstage, 18.000 Seiten Akten. 360 Zeugen aus 19 Ländern, von denen viele erstmals wieder mit ihren Peinigern konfrontiert wurden und die wenig Vertrauen in ein deutsches Gericht hatten. Die »Strafsache gegen Mulka u.a.« war ein Mammutprozess, der in vielen früheren KZ-Häftlingen traumatische Erinnerungen heraufbeschwor.

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Alle Angeklagten bestritten ihre Schuld, kaum einer zeigte Scham und Reue, viele machten Erinnerungslücken geltend. Die Urteile fielen, trotz sechs lebenslanger Zuchthausstrafen, sehr milde aus. Zehn Angeklagte kamen wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord mit zum Teil kurzen Zuchthausstrafen davon, drei wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Nicht vor Gericht stand der erste Befehlshaber von Auschwitz, Rudolf Höß. Er war schon 1947 von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und gehängt worden. Höß‘ Nachfolger Richard Baer, der erst 1960 aufgespürt werden konnte, starb 1963 in Untersuchungshaft.

Handlanger der eigentlichen Mörder

Geurteilt wurde nach dem traditionellen deutschen Strafrecht. Daher musste jedem einzelnen Angeklagten persönliche Schuld nachgewiesen werden. Die Schlüsselfrage lautete: Waren sie selbst zu Tätern geworden? Oder hatten sie, wie die Verteidigung behauptete, bloß mitgeholfen bei den Taten anderer, ohne eigenen Willen zur Tat, als Gehilfen? Die Rede war vom »Befehlsnotstand«. Selbst Robert Mulka, der als Adjutant von Höß fungierte, bekam lediglich 14 Jahre Zuchthaus, die er wegen Krankheit nie antrat. Begründung: Er sei bloß Handlanger der eigentlichen Mörder Hitler, Himmler und anderer fanatischer Nationalsozialisten gewesen.

Erst 2016 änderte der Bundesgerichtshof diese Linie und erkannte: Die KZs waren Teil einer »industriellen Tötungsmaschine«. Schon untergeordnete Tätigkeiten als SS-Buchhalter oder SS-Sekretärin konnten Beihilfe zum Mord im »organisierten Tötungsapparat« gewesen sein. Nur diese neue Begründung machte es möglich, in den vergangenen Jahren einige Prozesse gegen ehemalige KZ-Täterinnen und -Täter wegen Beihilfe zum Massenmord zu führen.

Für Generalstaatsanwalt Bauer, der als Jude, Sozialdemokrat und Homosexueller selbst aus Nazi-Deutschland fliehen musste, waren die Frankfurter Urteile eine Enttäuschung. Bauer habe die »Gesellschaft zum Hinsehen« zwingen wollen, schrieb Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, im Vorwort zu einer Biografie des Juristen.

Dass der Prozess dennoch die deutsche Gesellschaft veränderte und Auschwitz der Inbegriff für den Holocaust wurde, liegt auch daran, dass die Aussagen vieler Zeugen auf Tonband aufgenommen wurden. Ursprünglich nur für das Gericht bestimmt, sind die Mitschnitte nach und nach in schriftlicher Form und als Audio-Dateien öffentlich zugänglich gemacht worden. Wer die beklemmenden Aussagen von Tätern und Opfern im Original nachhören will, kann das auf der Internetseite www.auschwitz-prozess.de tun.

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