Es herrscht Krieg. Im Krieg stirbt nicht die Wahrheit als erstes, sondern die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten. Man wird schnell unter Druck gesetzt, sich möglichst einseitig zu positionieren und keine Zweifel aufkommen zu lassen. Darunter leidet vor allem die Empathie. Doch gerade in Kriegszeiten sollten wir uns diese Fähigkeit bewahren. Denn sie macht uns zu Menschen. Die Fähigkeit mitzufühlen.
Und wer sich diese Fähigkeit bewahrt, ist hoffentlich auch fähig dazu, schmerzhafte Gleichzeitigkeiten auszuhalten: Man kann die Notwendigkeit eines Krieges erkennen und jedes zivile Opfer betrauern. Es gibt Menschen, die das Richtige aus den falschen Gründen tun. Wir sollten Menschen nicht idealisieren, sondern sie in ihren Brüchen und Widersprüchen erkennen: Das gilt besonders für Politikerinnen und Politiker.
Der Beginn der jüdischen Zivilisation ist vom »Sowohl-als-auch« geprägt. Als die Hebräerinnen und Hebräer aus der Sklaverei des Pharaos befreit wurden, erfolgte das zu einem hohen Preis: nicht nur die zehn Plagen mitsamt dem Tod aller ägyptischen Erstgeborenen, auch das tödliche Versinken des ägyptischen Heeres in den Wassermassen des Schilfmeeres. Wenn diese Geschichte von Generation zu Generation jedes Jahr am Familientisch zu Pessach erzählt wird, dann erfreut man sich nicht an diesen Ereignissen, nein, man singt: »Dayenu«, es wäre genug gewesen, wenn G’tt nur eine seiner Taten vollbracht hätte. Mitgefühl mit dem Feind, der einen vernichten wollte – eine herausragende Botschaft in Zeiten von existenzieller Bedrohung.
Netanjahu nutzt diesen Krieg, um sich erneut als »Mister Security« zu profilieren.
Geht es mir also darum, mit dem Mullah-Regime oder der Hamas-Führung Mitgefühl zu haben? Nein, keine Empathie mit den Ajatollahs oder den vom Iran finanzierten Terrororganisationen, sondern mit der Zivilbevölkerung: in Israel, in den palästinensischen Gebieten, im Libanon, in Syrien, im Jemen und eben im Iran.
Es war notwendig, die existenzielle Bedrohung durch das iranische Atomprogramm zu beseitigen – wobei nach wie vor unklar ist, ob dieses Ziel überhaupt erreicht wurde. Dieser Krieg wurde auch nicht von Israel begonnen, sondern dem Mullah-Regime, das den jüdischen Staat und Jüdinnen und Juden weltweit bedroht hat und der Drahtzieher hinter den Massakern und der systematischen sexuellen Gewalt des »Schwarzen Schabbat« ist.
Diese Gefahr hat nicht erst Benjamin Netanjahu erkannt, sondern bereits Yitzhak Rabin. Er hat den Friedensprozess mit Yassir Arafat aufgenommen, um sich besser gegen den »äußeren Gefahrenkreis« – wozu er die Islamische Republik zählte – wehren zu können. Er ließ 1992 Langstreckenbomber anschaffen und forderte Europa zur Sanktionspolitik gegen den Iran auf.
Netanjahu nutzt diesen Krieg, um sich erneut als »Mister Security« zu profilieren. Damit will er davon ablenken, in welch bedrohliche Lage gerade er den jüdischen Staat gebracht hat. Er ist ein Bündnis mit Rechtsextremen eingegangen, die massive Gewalt nicht nur gegen Palästinenserinnen und Palästinenser, sondern auch Jüdinnen und Juden fordern, die nicht ihren Weg mitgehen. Es war seine Regierung, die mit der geplanten Justizreform die Gesellschaft und die Institutionen gespalten und geschwächt hat. Es war seine Regierung, die Truppen von der Grenze zu Gaza ins Westjordanland abgezogen hat. Es war seine Regierung, die die Erkenntnisse von Geheimdiensten und – vor allem aus Frauen bestehenden – Überwachungseinheiten falsch eingeschätzt hat.
Die Hamas trägt die Verantwortung für den Beginn dieses Krieges und durch ihre Nutzung ziviler Infrastruktur auch für viele tote palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten mit. Das ändert aber nichts an Netanjahus Verantwortung als Regierungschef: Es ist es seine Regierung, die die Einfuhr von Hilfsgütern nach Gaza verhindert hat. Es ist seine Regierung, die durch die Fortsetzung des Krieges die letzten 50 Geiseln in den Händen der Hamas in Gefahr bringt.
Das alles kann und darf nicht egal sein, wenn es um die Bewertung des Handelns der Regierung Netanjahus geht. Die äußere Bedrohung sollte nicht dazu führen, dass alles zu übersehen. Wenn Krieg herrscht, dann wächst unsere Verantwortung, Haltung und Empathie zu bewahren. Aus Angst vor der Bedrohung sollte man nicht falschen Propheten folgen.
Der Autor ist Publizist und lebt in Berlin.