Ayala Goldmann

Annie Ernaux, der Nobelpreis und BDS

Ayala Goldmann, Redakteurin Feuilleton Foto: Ayala Goldmann

Ayala Goldmann

Annie Ernaux, der Nobelpreis und BDS

Warum die Auszeichnung der französischen Schriftstellerin keine Frage des Mutes war

von Ayala Goldmann  12.10.2022 16:51 Uhr

»Das Nobel-Komitee hat eine mutige, unabhängige Wahl für eine der großen europäischen Schriftstellerinnen der Gegenwart getroffen.« So kommentierte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) am Donnerstag vergangener Woche die Entscheidung, der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur zu verleihen.

Im Nachhinein sind alle schlauer: Inzwischen ist klar, dass Ernaux eindeutig in der Nähe zur Israel-Boykottbewegung BDS zu verorten ist. Dass Ernaux 2019 zusammen mit mehr als 100 weiteren französischen Künstlern und Künstlerinnen einen Boykottaufruf gegen den Eurovision Song Contest in Tel Aviv unterzeichnet und das französische Fernsehen damit aufgefordert hatte, eine Übertragung abzulehnen, war hierzulande zunächst nur wenigen bekannt gewesen.

ISRAEL Doch dass die Kulturstaatsministerin nach dem Dauerskandal um die »documenta fifteen« für das Thema BDS stärker sensibilisiert sein müsste als der Rest der Republik – zur Erinnerung: 2019 hatte der Bundestag die Israel-Boykott-Bewegung als antisemitisch eingestuft -, wäre schon zu erwarten gewesen. Denn der wachsende Einfluss von BDS nicht nur in der Kunstszene, sondern auch bei Literaten und Musikern ist leider nichts Neues. Wäre es so schwergefallen, sich vor dem Lob der »mutigen Wahl« über Annie Ernaux zu informieren? Oder kam dieses Statement von Claudia Roth ganz bewusst?

Warum muss sich Ernaux zur Komplizin einer antisemitischen Bewegung machen?

Es geht hier nicht darum, die 82-jährige Annie Ernaux als Schriftstellerin zu diskreditieren: Ihr autofiktionales Buch Die Scham über eine Frau, die sich Jahrzehnte später an den traumatischen Tag erinnert, an dem ihr Vater ihre Mutter umbringen wollte, ist eines der Werke, die gerade wegen ihrer nüchternen und präzisen Wortwahl noch lange im Gedächtnis bleiben werden.

Und dass Ernaux jüngeren Leserinnen und Lesern in Das Ereignis die Erfahrungen einer illegalen Abtreibung und damit die Dilemmata schildert, denen viele Frauen vor noch nicht allzu langer Zeit ausgesetzt waren, ist ein klares Verdienst der Autorin, die sich »nicht zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt« machen will.

UKRAINE-KRIEG Doch warum muss sie sich stattdessen zur Komplizin einer antisemitischen Bewegung machen? Und was war eigentlich so »mutig« an der Entscheidung der Schwedischen Akademie für Annie Ernaux? Welches Risiko sind deren Mitglieder mit ihrem Beschluss eingegangen, den sie ohne Einsatz von Leib und Leben am Schreibtisch fassten?

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Wäre es nicht »mutiger« gewesen, die ebenfalls als Kandidatin gehandelte russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen – eine nicht minder hervorragende Autorin und scharfe Kritikerin des Putin-Regimes? Gerade weil der Friedensnobelpreis an Menschenrechtler aus Belarus, der Ukraine und Russland gegangen ist, hätte das Nobel-Komitee hier ein doppeltes Ausrufezeichen setzen können – in Zeiten, in denen die ukrainische Zivilbevölkerung der russischen Aggression immer noch schutzlos ausgesetzt ist.

Nun geht stattdessen die Debatte über eine Boykottbewegung weiter, die in Israel den Hauptaggressor weltweit wähnt. Das ist mehr als schade. Man kann nur hoffen, dass Ernaux sich bei ihrer Nobelpreis-Rede im Dezember erklären wird – und nicht alles noch schlimmer macht.

goldmann@juedische-allgemeine.de

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025

Kommentar

Wenn Versöhnung zur Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Meinung

Alles muss ans Licht

Eine unabhängige Untersuchungskommission über die Terroranschläge des 7. Oktober ist ein Akt von Pikuach Nefesch

von Sabine Brandes  21.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Kommentar

Danke, Berlin!

Die Entscheidung der Behörden, einem Hamas-Fanboy die Staatsbürgerschaft zu entziehen, sendet ein unmissverständliches und notwendiges Signal an alle Israelhasser. Mit Mahnwachen allein können wir die Demokratie nicht verteidigen

von Imanuel Marcus  19.11.2025

Meinung

Die Schönwetterfreunde Israels sind zurück! 

Die Wiederaufnahme der Waffenexporte ist richtig und notwendig. Doch das ändert nichts daran, dass die Bundesregierung das Vertrauen Israels und vieler Juden vorerst verloren hat

von Sarah Cohen-Fantl  18.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Mit Martin Hikel geht einer, der Tacheles redet

Der Neuköllner Bürgermeister will nicht erneut antreten, nachdem ihm die Parteilinke die Unterstützung entzogen hat. Eine fatale Nachricht für alle, die sich gegen Islamismus und Antisemitismus im Bezirk einsetzen

von Joshua Schultheis  16.11.2025

Meinung

Die Ukrainer brauchen unsere Hilfe

Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten in Deutschland nimmt ab. Aus einer jüdischen Perspektive bleibt es jedoch wichtig, auch weiterhin nicht von ihrer Seite abzuweichen

von Rabbinerin Rebecca Blady  16.11.2025