Literatur

Virtuose der Regelzwangspiele

Literatur

Virtuose der Regelzwangspiele

David Bellosʼ große Biografie über den jüdisch-französischen Experimentalautor Georges Perec

von Alexander Kluy  05.08.2023 22:30 Uhr

Vielleicht war Georges Perec der letzte, der wirklich größte Feuerwerker der spätmodernen Literatur. Die Experimente, die formalen Exerzitien, die Sprachspiele, Palindrome, vokalen Rätsel und intelligenten Juxereien machten und machen Georges Perec zum Ereignis.

Wie bieder, wie mutlos, wie ideenfrei, verglichen mit Perec-Bänden wie Das Leben Gebrauchsanweisung (1978) oder La Disparition (1969) – ein mehrhundertseitiger Roman, in dem kein einziges Mal ein Wort mit »e« vorkommt –, W oder Die Erinnerung (1975) oder 53 Tage (posthum 1989), dagegen die deutschsprachige Gegenwartsliteratur!

Begleiter Das Leben Georges Perecs, geboren am 7. März 1936 und am 3. März 1982 verstorben, dessen Vater 1940 als Soldat fiel, dessen Mutter 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, hat David Bellos erstmals 1993 in einer Biografie beschrieben.

Der Engländer, der in Oxford promoviert wurde, in Manchester lehrte und dann bis 2019 22 Jahre lang Professor für Romanische und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Princeton University in den USA war, hat mehr als sein halbes Leben mit und für Perec verbracht; daneben übertrug er dessen Bücher, aber auch Fred Vargas, Simenon und Balzac ins Englische.

Fast 30 Jahre lang sammelte Bellos weiter, recherchierte, sprach mit Freunden und Verwandten, erhielt korrigierende Anmerkungen und Bemerkungen und ergänzende Erinnerungen. Der Diaphanes Verlag, der sich seit zwölf Jahren hingebungsvoll dem Werk George Perecs widmet, legt nun Bellos‹ grundlegend aktualisierte Lebensbeschreibung vor, sehr gut übersetzt von Sabine Schulz; und glücklicherweise festgebunden, dafür mit ungewöhnlich großem, die Seiten fast zur Gänze ausfüllendem Satzspiegel und feinsinnigem Nachweissystem.

Achterbahn Ein Leben als Stenogramm: Perec hatte polnische Vorfahren (der Vorname war eine bürokratische Verballhornung von »Peretz«). 1920 fand sich die Großfamilie in Paris ein. Wohlstand infolge des Handels mit Naturperlen. Es folgten der Krieg und das Überleben erst in der Bretagne und im Vercors-Gebirge bei Grenoble – die einzige Jüngere, die in Paris bei ihren Eltern blieb, war Georgesʼ Mutter, die dann nicht mehr der Deportation entkam. Mit 18 der Entschluss, Schriftsteller zu werden.

Studienabbruch, Erfolglosigkeit, Leben als hingebungsvoll marxistischer Bohemien. Viel- und Rundumleser, Hilfstätigkeiten in der Marktforschung und dann als schlecht bezahlter Archivar und Bibliothekar einer medizinischen Forschungseinrichtung. 1965 ein erster Ruhm infolge des Prix Renaudot, dann zehn Jahre Abrutschen ins literarische Abseits und ins Fast-Vergessen, der Anschluss an die Gruppe OuLiPo, die sich die Verquickung von mathematischen und literarischen Prinzipien auf die Fahne geschrieben hatte.

Viele Freundschaften des enorm umgänglichen, lebenslustigen (und schüchternen) Kettenrauchers und ein weiterer Erfolg mit Das Leben Gebrauchsanweisung, einem immens vertrackten Haus-Roman aus Wörtern, noch größerer Ruhm, Filmarbeiten, hektische Betriebsamkeit, Pläne, dann der viel zu frühe Krebstod. All dies zeichnet Bellos detailreich, enorm lesbar, dabei leichthändig und oft mit diskret dis­tanzierter Kritik nach.

Frankofonie 1997 kam dann – ungewöhnlich schnell, gerade einmal 15 Jahre nach seinem Tod – die Erhebung in Frankreichs Literatur­olymp. Perecs gesammelte Werke erschienen in zwei edlen Bänden, zusammen 2464 Druckseiten, in der Bibliothèque de la Pléiade, der ruhmreichen Klassiker-Reihe der Frankofonie. Begleitet wurde die Edition von einem Album Georges Perec, das man sich auch zulegen sollte – allein wegen der hochkomischen Fotografien!

Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Biografie. In der auch deutlich wird, dass, was Perec im Alltag von sich fernhielt – jüdisch sein –, umso stärker in seiner kunstvollen und brillanten Erinnerungsprosa aufscheint, als leeres X von Mutter, Vater, Leben, Historie.

David Bellos: »Georges Perec. Ein Leben in Wörtern«. Übersetzt von Sabine Schulz. Diaphanes, Zürich und Berlin 2023, 704 S., 45 €

Rheinland-Pfalz

»Aus Beutebeständen« - NS-Raubgut in rheinland-pfälzischen Museen

Viele kleine Museen in Rheinland-Pfalz haben bisher nicht danach geforscht, ob NS-Raubgut in ihrem Besitz ist. In den Sammlungen von vier dieser mehr als 400 Museen sah eine Kunsthistorikerin nun genauer nach

von Norbert Demuth  06.06.2025

Medien

Deutschlands Oberlehrer

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? In diesen Tagen scheint die Diffamierung Israels oberste Bürgerpflicht zu sein. Ein Kommentar

von Michael Thaidigsmann  06.06.2025 Aktualisiert

Interview

»Es findet ein Genozid statt« – »Israel muss sich wehren«

Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad über ihre langjährige Freundschaft, was sie verbindet – und was sie nach dem 7. Oktober 2023 trennt

von Philipp Peyman Engel  06.06.2025 Aktualisiert

Berlin

Dokumentarfilm »Don’t Call It Heimweh« über Margot Friedländer

Die Dokumentation von Regisseur Thomas Halaczinsky zeigt Friedländers erste Reise aus New York nach Berlin im Jahre 2003. Es war ihre erste Fahrt in die Heimatstadt nach 60 Jahren

 05.06.2025

TV-Tipp

Das Schweigen hinter dem Schweinderl

»Robert Lembke - Wer bin ich« ist ein kluger Film über Verdrängung, Volksbildung und das Schweigen einer TV-Legende über die eigene Vergangenheit. Nur Günther Jauch stört ein wenig

von Steffen Grimberg  05.06.2025

Bildung

Mehr als nur zwei Stunden Reli

Jüdischer Religionsunterricht muss attraktiver werden und auch Kinder erreichen, die keine jüdische Schule besuchen. Was kann konkret getan werden?

von Uri R. Kaufmann  05.06.2025

Wissenschaft

Wie die Jerusalemer Erklärung Antisemitismus verharmlost

Kritiker der IHRA-Antisemitismusdefinition behaupten gerne, die konkurrierende Jerusalemer Erklärung sei klarer und kohärenter. Doch das Gegenteil ist der Fall

von Ingo Elbe, Sven Ellmers  05.06.2025

Dresden

»Tiefgang mit Witz«: Erste Lesung des Dresdner Stadtschreibers Alexander Estis

Der jüdische Autor schreibe heiter, ironisch, grotesk und überrasche mit originellen Beobachtungen, so die Stadtverwaltung

 04.06.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Tabellenfragen: Was hat die Jewro mit der Bundesliga gemeinsam?

von Katrin Richter  04.06.2025