Luxemburg

Von der Boutique ins Kabinett

Seit Dezember auf der Regierungsbank: Corinne Cahen Foto: Patrick Galbats

Corinne Cahen wirkt müde, aber sie strahlt. Seit wenigen Wochen ist sie Ministerin. In ihrem neuen Büro empfängt sie – bescheiden, verschmitzt lächelnd und doch staatstragend in ihrem königsblauen Jackett. 13.822 Stimmen bekam Cahen bei den Parlamentswahlen im Herbst aus dem Stand und kam damit in der Hauptstadt auf Platz 5 der Liste der Liberalen. Die 40-Jährige kann keine politische Bilderbuchkarriere vorweisen, sie ist eine Quereinsteigerin. Ihr Lebenslauf folgt keiner Gesetzmäßigkeit – aber eines wird klar, wenn man ihr zuhört: Sie hat immer das getan, wonach ihr der Sinn stand, und das zu 100 Prozent.

Bereits in der Schule war für sie klar, dass sie Journalistin werden möchte. Also rief sie bei einem bekannten RTL-Redakteur an – und bekam einen Praktikumsplatz beim Radio. Während des Abiturs jobbte sie dort als freie Mitarbeiterin. Als die Stelle des RTL-Auslandskorrespondenten in Paris frei wurde, studierte sie gerade. Doch sie übernahm den Job und berichtete bis zum Ende ihres Studiums aus Frankreich. Danach war sie Korrespondentin der Nachrichtenagentur AFP in Washington und später in Den Haag. Zwischendurch lernte sie in einem Sommerulpan in Israel Hebräisch.

Eltern Zurück in Luxemburg übernahm sie die Leitung des elterlichen Schuhgeschäfts in der Avenue de La Liberté und eröffnete zwei weitere Boutiquen. »Das war kein Zufall«, sagt Cahen, »sondern Liebe.« Es war ihr wichtig, aus dem Schatten ihrer Eltern herauszutreten. Schon während sie bei RTL arbeitete, hatte sie sich immer wieder die Frage gestellt, was sein würde, wenn ihr Vater in Rente geht. »Das Schuhgeschäft gehört zu meinem Leben, wir sind ein Familienbetrieb«, sagt Cahen, »unmöglich, dass ich ihn nicht übernommen hätte.«

Den Journalismus hat Cahen dabei nie ganz aufgegeben. Über Facebook postete sie ihr »Résumé vum Dag«, schilderte ihre persönliche Sicht auf das politische Geschehen und hatte Tausende Fans und Abonnenten. Das ist nun vorbei. »Jetzt muss ich Diplomatie lernen«, sagt sie, »Facebook wird mir fehlen.« Das sei ein bisschen, wie mit dem Rauchen aufzuhören.

In die Politik zu gehen, kam in ihrer Karriereplanung lange Zeit nicht vor. Zwar habe sie mit dem Gedanken gespielt, sagt sie. Aber ihr Mann ist politischer Journalist, und damit hatte sich die Frage vorläufig erledigt. Warum sie eine Liberale ist? »Ja, man soll leben und leben lassen. Ich bin der Meinung, dass der Staat den Leuten nicht zu viel vorschreiben sollte«, sagt Cahen.

Luxemburg Dass sie ihren eigenen Kopf hat, bewies sie, kaum dass sie ins Parlament gewählt war. Eine ihrer ersten Anfragen betraf den antisemitischen Gehalt eines alten Luxemburger Volkslieds, das noch immer bei einem Umzug in der Stadt Vianden gesungen wird. Nachdem Cahen auf Facebook ein Video gesehen hatte, in dem Menschen brennende Fackeln schwenken und dazu singen: »Ho, ho, ho, der Jud, der liegt im Stroh«, rief sie kurz entschlossen den dortigen Bürgermeister an.

Mehr noch als der Text habe sie die Tatsache gestört, dass dazu mit Feuerballen gewedelt wurde – und das am Jahrestag der Pogromnacht von 1938. »Das ist hier halt Tradition«, antwortete der Bürgermeister lapidar. »Im Zweiten Weltkrieg waren Dinge Tradition, von denen ich nicht mal sprechen möchte«, sagt Cahen verärgert.

Trotz dieser Intervention vor einigen Wochen ist es ihr lieber, wenn es Nichtjuden in die Hand nehmen, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Das Judentum – das sind für Cahen, die vor Jahren als erste Frau an der Spitze der Jugendorganisation Jeunesse Israélienne du Luxembourg stand und nach 15 Jahren aus dem Konsistorium austrat, weil sie die Strukturen zu verstaubt fand, vor allem eine Kultur und zahlreiche Erinnerungen. »Ich muss an meine Großmütter denken, an meine Familie, an meine Herkunft. Das Judentum ist Bestandteil meines Lebens.«

Cahens Mann ist nicht jüdisch. Die Kinder der beiden erleben sowohl jüdische als auch christliche Bräuche. Vor ein paar Wochen hat Carinne Cahen bei ihren Eltern die Chanukkalichter angezündet, und noch nie in ihrem Leben war sie an Jom Kippur arbeiten. »In der Grundschule fand ich das schwierig«, erzählt sie. »Ich mochte es nicht, an Jom Kippur und Rosch Haschana nicht zur Schule zu gehen. Ich wollte nicht anders sein als die anderen.«

Antisemitismus Dass es in Luxemburg Antisemitismus gibt, hätte sie bis zu ihrer parlamentarischen Anfrage nicht gedacht. Noch heute bekommt sie die aggressiven Reaktionen zu spüren – über Facebook genauso wie im richtigen Leben. Doch Cahen lässt sich nicht einschüchtern. Sie steht zu ihren Überzeugungen und packt die Dinge an.

Eine gesellschaftspolitische Modernisierung des 18 Jahre lang unter Premier Jean-Claude Juncker christlich-konservativ regierten kleinen Landes steht ganz oben auf der Agenda der neuen rot-blau(liberal)-grünen Regierung. Cahen will als Familienministerin ihren Teil dazu beitragen. »Mir liegt am Herzen, dass es den Leuten gut geht und dass denen, die es wirklich nötig haben, geholfen wird. Und solche Leute gibt es auch in Luxemburg.« Ein wichtiges Thema ist für sie die Inklusion. »Es geht darum, das Leben für behinderte Menschen offener zu gestalten, damit sie sich freier bewegen können. Die Leute sollen nicht kategorisiert werden.«

Kinder Ob sie jetzt am Ende ihrer Träume ist? »Ich hatte keinen Plan«, beteuert sie. Mit dem gigantischen Stimmergebnis habe sie nicht gerechnet. Sofort nach den Wahlen begann sie, Verantwortung in ihrem Betrieb abzugeben. »Ich war etwas überrumpelt. Aber meine Ambitionen sind noch immer, auch Zeit zu haben für meine Kinder.«

Bei allem, was sie macht, ist es ihr am wichtigsten, etwas damit zu bewirken. Wenn man etwas gerne tue, sagt sie, mache man es auch gut. »Schauen wir mal, was kommt.« In Luxemburg stünden den Menschen, wie man sieht, viele Türen offen, meint Cahen lachend: »In Amerika kann es ein Tellerwäscher zum Präsidenten bringen – und in Luxemburg wird eine Schuhverkäuferin Ministerin.«

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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