Flüchtlinge

Endstation Tel Aviv

Die überwiegende Mehrheit der afrikanischen Flüchtlinge lebt im Süden von Tel Aviv in der berüchtigten Gegend rund um den zentralen Busbahnhof. Foto: Flash 90

»Hier ist nicht Afrika!«, prangt in fetten schwarzen Lettern auf dem Schild. Wie eine Drohung weht das zerschlissene Banner an einem Balkon im Süden von Tel Aviv. Direkt darunter spielen zwei kleine Jungs mit einem rostigen Dreirad. Sie schieben sich gegenseitig und lachen lauthals. Die Haut der Kinder ist dunkel. Israel liegt nicht in Afrika. Doch der Nachbarkontinent ist nah. Und in mancher Hinsicht ist er hier.

Etwa 60.000 Menschen aus afrikanischen Staaten wie Eritrea, Äthiopien, Ghana und dem Sudan leben derzeit in Israel. Sie schlüpften in den vergangenen sieben Jahren durch die löchrige Grenze zu Ägypten ins Land. In manchen Nächten waren es Hunderte. Die meisten besitzen nicht mehr als die Kleidung, die sie am Leib tragen. Um die 3.000 Männer, Frauen und Kinder sitzen in israelischen Gefängnissen. Ihr Vergehen: illegale Einreise.

Vergangene Woche gab der Oberste Gerichtshof grünes Licht für die Ausweisung von Flüchtlingen aus dem Südsudan, indem er den Gruppenschutz für sie aufhob. Das afrikanische Land hatte nach Jahren des blutigen Bürgerkrieges im Juli 2011 seine Unabhängigkeit vom Norden erklärt.

Hebräisch »An einem Tag wurden 78 Leute verhaftet, auch Familien mit Kindern«, erklärt Sigal Rozen von der Menschenrechtsorganisation Kav Laoved. Die Community der Südsudanesen bestehe aus 700 bis 1.000 Menschen, darunter 400 Kinder. »Die sind in Israel geboren und aufgewachsen. Sie sprechen Hebräisch und gehen hier zur Schule«, erzählt Rozen. Es sei schockierend und traurig, dass die lange Schutzperiode so traumatisierend beendet wird. Die Aktivistin hatte gehofft, den Menschen bleibe mehr Zeit, sich vorzubereiten. »Viele wollen ja zurück, doch niemand weiß wirklich, was sie im Südsudan erwartet.«

Innenminister Eli Yishai ist der vehementeste Vertreter der Abschiebepolitik in Ad-hoc-Manier. Lakonisch sagte er am Montag: »Wenn wir diese Maßnahmen nicht durchführen, können wir den zionistischen Traum begraben.«

Um fünf Uhr morgens nahm die Bevölkerungs-, Einwanderungs- und Grenzbehörde (PIBA) in Eilat, Beer Sheva und Tel Aviv Dutzende fest. All jenen, die das Land freiwillig verlassen wollen, sicherte die PIBA eine Woche Zeit zu. Sie würden nicht verhaftet, sondern Unterstützung erhalten. Doch schon vier Tage nach dem Urteil begannen die Festnahmen.

Die überwiegende Mehrheit der Afrikaner lebt im Süden von Tel Aviv rund um die zentrale Busstation. Hübsch ist diese Gegend nicht. Sie ist berüchtigtes Auffangbecken für Junkies, Prostituierte und die Flüchtlinge. Viele von ihnen haben keine Arbeit, sitzen tagein, tagaus im Lewinsky-Park oder auf anderen Grünflächen. Es gibt nichts zu tun. Das Bild der Gegend hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Schon immer war sie ärmliches Stiefkind der Stadt mit ihren unterprivilegierten Bewohnern. Jetzt mutet sie an wie eine Kleinstadt mitten in Afrika.

Armut Viele der Flüchtlinge versuchen dennoch, die Gegend zu einer besseren zu machen, zu ihrem Zuhause. Hilfsorganisationen wie Kav Laoved oder das African Refugee Development Center unterstützen mit freiwilligen Helfern. Direkt am Park gibt es eine öffentliche Bibliothek, in der Nähe werden Kinder und Jugendliche in einem privaten Bildungszentrum unterrichtet, in vielen Wohnungen sind Krippen und Tagesstätten untergebracht.

Die Kriminalitätsrate innerhalb der afrikanischen Community sei um einiges niedriger als im Rest der israelischen Bevölkerung, verkündete der Polizeichef kürzlich. Doch Armut und Perspektivlosigkeit bieten einen idealen Nährboden für Gewalt. Nach einigen Zwischenfällen kippte die Stimmung vor einigen Monaten drastisch. Die israelischen Anwohner begannen, Sturm gegen die »Afrikanisierung« zu laufen. In wütenden Protestaktionen bezeichneten viele die Flüchtlinge als »Krebsgeschwür«. Einige Politiker, etwa Miri Regev vom Likud, stimmten ein.

Die Regierung in Jerusalem unternahm alles, um nicht noch mehr Afrikaner anzulocken. An der Grenzsicherung aus stabilem Beton wird seit Monaten fieberhaft gebaut; Zeltlager in der Wüste, umgeben von Stacheldraht, sind geplant. Dennoch gilt Israel in den Herkunftsländern der Flüchtlinge weiter als attraktiv.

»Es ist die einzige Demokratie in der gesamten Gegend. Deshalb bin ich hier«, sagt ein junger Mann, der vor einem Internetcafé auf einen freien Platz wartet. Der etwa 25-Jährige spricht fließend Englisch und hat blitzende Augen. Er stammt aus Eritrea, kam vor fünf Jahren und arbeitet in einem Restaurant als Hilfskraft. Vorher lebte er als Fremdarbeiter im Nachbarland, »doch die Ägypter sind keine guten Menschen wie die Israelis«, berichtet er mit bebender Stimme. »Sie schlagen, betrügen und töten uns.« Seinen Namen möchte er nicht nennen. So wenig auffallen wie möglich, lautet die Devise dieser Tage. »Sag einfach Charlie zu mir.«

Charlies Familie sei in der Heimat eines Tages von Regierungsschergen umgebracht worden. Als er von seinem Vater, der Mutter und den zwei Brüdern spricht, die nicht mehr am Leben sind, füllen sich seine Augen mit Tränen. Peinlich berührt schaut er auf den Boden. Nur weil Charlie in der Schule war, ist er dem Gemetzel entkommen. Wo seine anderen drei Geschwister sind, weiß er nicht. Nicht einmal, ob sie überlebt haben. »Ich habe kein anderes Land mehr, in dem ich sein kann. Israel ist meine Heimat.«

Angst Die Ankündigungen des Innenministers machen ihm Angst. Charlie will nicht zurück nach Eritrea, wo ihm der sichere Tod drohe, wie er immer wieder versichert. Auch die UN bestätigt, dass das Land von einem tyrannischen Regime regiert wird, das Menschenrechte systematisch mit Füßen tritt.
Ein paar Meter vom Internetcafé entfernt, herrscht für gewöhnlich ein kunterbuntes Durcheinander auf dem Straßenmarkt. Filipinas und Afrikaner halten Ausschau nach einem Schnäppchen, um sich mit dem Nötigsten einzudecken. »Nur zwei Schekel jedes Teil«, schreien die Händler mit heiseren Stimmen.

Diesen Montagnachmittag allerdings liegt eine sonderbare Stille über der Gegend. Es sind Menschen auf den Straßen, doch sie huschen fast geräuschlos vorbei, kaum jemand schaut in die Auslagen der Geschäfte, niemand verweilt. Treffen sich Bekannte, stecken sie die Köpfe zusammen, tuscheln nervös und schauen alle paar Minuten nach hinten.

Die Angst geht um. Innenminister Yishai erklärte, dies sei erst der »erste Schritt, um alle illegalen Einwanderer auszuweisen«. Er warte lediglich auf die Genehmigung des Außen- und Justizministeriums für die Abschiebung der Menschen aus Eritrea, deren Zahl auf rund 35.000 geschätzt wird. »Ich kann versprechen, die Sicherheitslage in Eritrea ist nicht schlechter als in Sderot«, sagte der Schas-Politiker. Er müsse die jüdische Mehrheit beschützen. »Es heißt: sie oder wir.«

Es ist wirklich ein Dilemma, meint Einat Hadar, alleinerziehende Israelin, die mit ihren zwei Kindern hier in einer kleinen Wohnung lebt. Sie versteht die Not der Flüchtlinge, ihren Wunsch nach einem besseren Leben. »Haben wir den nicht alle?« Doch sie versteht auch das Handeln der Regierung. »Wenn Israel nichts tut, werden bald Hunderttausende, vielleicht Millionen von ihnen hier sein. Das können wir nicht bewerkstelligen, wir haben weder die Ressourcen noch den Platz. So herzlos das auch klingen mag – dies ist nun einmal unser Land. Und nicht Afrika.«

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