Archäologie

Die Wüste der Propheten

Die Fragmente werden untersucht und sorgsam konserviert. Foto: Flash 90

In einem spektakulären Fund haben israelische Forscher am Toten Meer jahrtausendealte Fragmente einer biblischen Schriftrolle entdeckt. Das Fundstück aus der Zeit um 132 n.d.Z. ergänzt die Sammlung von Artefakten, die die Geschichte des Judentums und des frühchristlichen Lebens beleuchten.

»Seit Jahrtausenden haben historische Ereignisse auf dem Boden des heutigen Israel stattgefunden«, sagt Ascher Ben Zvi vom Kibbuz Hasorea am westlichen Rand der Jesreel-Ebene. »Die Menschen betrieben Handel, führten Kriege und hinterließen überall ihre Spuren. Deshalb macht die reiche, komplexe und vielfältige kulturelle und anthropologische Geschichte des Landes Israel zu einem interessanten Gebiet für archäologische Entdeckungen.«

Die Fragmente enthalten Texte aus den Büchern Sacharja und Nahum.

Der 94-Jährige, der ursprünglich aus Wien stammt und bei seiner Geburt noch Oskar Hirschensohn hieß, schloss sich 1948 dem Kibbuz an und war fast 50 Jahre lang als Archäologe tätig. »Die unzähligen Funde der letzten Jahrzehnte sind ein weiterer Beweis für die Verbundenheit des jüdischen Volkes mit dem Land Israel.«

FELSWAND Die neu entdeckten Pergamentfragmente wurden bei einer umfassenden Untersuchung in der Judäischen Wüste in der sogenannten Höhle des Grauens im Wadi Nachal Chever bei Ein Gedi entdeckt. Die Höhle befindet sich in einer Felswand, rund 80 Meter unter dem Kliff, und kann nur durch Abseilen erreicht werden. Im Rahmen eines vierjährigen nationalen Projekts wurden die Pergamente geborgen, um die weitere Plünderung von Altertümern aus den abgelegenen Höhlen in der Wüste zu verhindern, die die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland überspannen.

Es ist die erste neue Schriftrolle, die seit etwa 60 Jahren entdeckt wurde. Im Jahr 1947 fand ein Beduine am nördlichen Ende des Toten Meeres in einer Höhle die sogenannten Qumran-Rollen, die zu den wichtigsten archäologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts gehören. Während diese vorwiegend in hebräischer Sprache geschrieben waren, sind die neuesten Fundstücke hauptsächlich auf Griechisch verfasst, und laut der Antikenbehörde (IAA) stammen sie aus der Zeit des Bar-Kochba-Aufstands gegen die römische Besatzung, der 132 n.d.Z. angefangen hatte und drei Jahre später niedergeschlagen worden war. Damit gehören sie zu den ältesten jemals gefundenen biblischen Fragmenten.

Das Projekt brachte auch noch weitere seltene und historische Funde hervor, darunter einen großen geflochtenen Korb mit einem Deckel, dessen Alter mittels Radiokarbonmessung auf 10.500 Jahre datiert wurde und damit der älteste je gefundene Korb der Welt ist. Die Archäologen fanden auch das 6000 Jahre alte, teilweise mumifizierte Skelett eines Kindes, das in ein Tuch gewickelt war und stellenweise noch Haut, Haar und Sehnen enthält.

GRIECHISCH »Mehr als 80 Fragmente unterschiedlicher Größe wurden entdeckt, von denen einige Text enthalten«, sagt Oren Ableman vom Institut für jüdische Geschichte der Hebräischen Universität Jerusalem. »Nach Überprüfungen datieren die Schriftrollen vom Ende des ersten Jahrhunderts v.d.Z. Das bedeutet, als die Fundstücke in die Höhle gebracht wurden, waren sie bereits ein Jahrhundert alt.«

Die Forscher stellten fest, dass die Artefakte mit anderen Fragmenten – die vor einigen Jahrzehnten entdeckt und im IAA-Labor aufbewahrt wurden – übereinstimmen. Sie gehören zu einer – mit Ausnahme des Gottesnamens – auf Griechisch geschriebenen Schriftrolle des biblischen Buches Sacharja. Die Neuentdeckung mit bisher noch nie entschlüsselten Auszügen aus der Tora enthält auch Verse aus dem Buch Nahum. Beide Texte entstammen dem biblischen Buch der zwölf kleinen Propheten.

»Die Schriftquellen vom Toten Meer, die größtenteils im vergangenen Jahrhundert entdeckt wurden, enthalten die frühesten bekannten Kopien von Teilen der Hebräischen Bibel«, erklärt Ableman. Die biblischen und apokryphen Texte aus dem 3. Jahrhundert v.d.Z. bis zum 1. Jahrhundert n.d.Z. gehören zu den bedeutendsten archäologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts und sind weltweit Gegenstand hitziger akademischer Debatten.

puzzleteil Die Judäische Wüste mit ihrem trockenen Klima bot einzigartige Bedingungen für die natürliche Erhaltung von Artefakten und organischen Materialien, die den Lauf der Zeit normalerweise nicht überstanden hätten. »Der Fund ist ein wichtiger Erfolg für die Forschung«, sagt Ableman, »doch nur ein weiteres kleines Puzzleteil der Vergangenheit.«

Die Judäische Wüste mit ihrem trockenen Klima bot einzigartige Bedingungen für die natürliche Erhaltung von Artefakten und organischen Materialien, die den Lauf der Zeit normalerweise nicht überstanden hätten.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Höhlen immer wieder von Dieben geplündert, die Artefakte suchen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Aus diesem Grund beschlossen die israelischen Behörden 2017 eine umfassende Untersuchung der Höhlen. »Die Archäologen kamen immer nach den Räubern«, sagt Amir Ganor, Direktor der Abteilung für Diebstahlprävention beim IAA. »Wir hatten beschlossen, dass es an der Zeit war, den Räubern einen Schritt voraus zu sein.«

RÄUBER Hauptziel der Initiative ist es, diese seltenen und wichtigen Kulturgüter aus den Klauen der Diebe zu retten. Die neu entdeckten Schriftrollenfragmente sind insofern auch ein Weckruf an den Staat. Mithilfe moderner Werkzeuge wie Drohnen, die in jeden Winkel und Spalt flogen, durchkämmten drei Teams aus jeweils vier Personen die Klippen, 80 Kilometer entlang des Toten Meeres. »Um diese historisch wichtige Operation abzuschließen, müssen weitere Ressourcen vom Staat bereitgestellt werden«, erklärt der Archäologe. »Sonst drohen Plünderungen.«

Auch in den Murabaat-Höhlen im heutigen Westjordanland haben die Forscher eine Menge Artefakte entdeckt. Bereits zu Beginn der 50er-Jahre suchte die IAA das kulturelle Erbe des biblischen Israels. Doch die Region um »Judäa und Samaria« stand bis zum Sechstagekrieg 1967 unter jordanischer Herrschaft. »In der Antike gab es diese Grenze nicht«, sagt Ganor. »In der Archäologie wird die Judäische Wüste für Forschungszwecke als eine Einheit untersucht.«

Bei den Ausgrabungen konnte Ascher Ben Zvi aufgrund seines Alters nicht mehr selbst vor Ort sein. Als Experte aber ist dem IAA auch heute noch seine Meinung wichtig. »Man kann in Israel nicht graben oder größere Baumaßnahmen durchführen, ohne dass Spuren vergangener Epochen zutage treten«, erklärt der Wissenschaftler. »Doch ein Volk ohne Kenntnis seiner Geschichte, seines Ursprungs und seiner Kultur ist wie ein Baum ohne Wurzeln.«

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