Tourismus

Sightseeing zur Synagoge

Ansturm: Beim ersten Tag der offenen Tür wollten 12.000 Mainzer die neue Synagoge besichtigen. Foto: ddp

Sie sind neu, sie fallen auf, manche finden sie schön, andere nennen sie vieldeutig »interessant« – nur gleichgültig lassen die modernen Synagogen in Dresden, München, Mainz und Gelsenkirchen keinen. Schulen, Vereine, Kirchengemeinden, Einheimische und Touristen wollen sich die Gotteshäuser ansehen. Die Münchener Hauptsynagoge Ohel Jakob zählte seit der Eröffnung vor sechs Jahren etwa 240.000 Besucher im Rahmen von Führungen.

In Dresden kommen pro Jahr 15.000 bis 16.000 Interessenten, um sich den verdrehten Kubus von innen anzuschauen. 40.000 Menschen führte die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen bisher durch ihr 2007 eröffnetes Gotteshaus – das sind 100-mal so viele, wie die Gemeinde Mitglieder hat. In Mainz kamen zum Tag der offenen Tür kurz nach der Eröffnung der Synagoge 12.000 Besucher.

»Ein bisschen unterschätzt hatten wir das schon«, erinnert sich Aaron Buck, Sprecher der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern. Spätestens als sich kurz nach der Eröffnung Tausende in die lange Schlange einreihten und geduldig auf Einlass warteten, war klar: Das muss gut organisiert werden. Den anderen Gemeinden ging es ähnlich. Auch ihnen wurde durch den ersten Ansturm schlagartig bewusst, dass sie jetzt nicht nur ein tolles neues Gemeindezentrum hatten, sondern auch einen Besuchermagneten.

willkommen »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit«, wusste schon Karl Valentin. Trotzdem käme es Buck nie in den Sinn, über den Andrang zu stöhnen. Denn für die Gemeinden bedeutet das große Interesse: Wir sind wieder wer. »Dass wir so willkommen geheißen werden, das konnte man nur hoffen, erwarten konnte man es nicht«, sagt Buck.

Auch in Mainz freut sich die Gemeindevorsitzende Stella Schindler-Siegreich über das öffentliche Interesse und über Besucher, die nach der Synagogenbesichtigung fragen, ob sie auch einmal zu einer Veranstaltung in die jüdische Gemeinde kommen dürfen. Einerseits. Andererseits sind da jene, die glauben, einen Termin einfordern zu können. Die nicht verstehen, dass sie vielleicht drei- oder viermal nachfragen müssen, um eine Zusage zu bekommen.

Manchmal komme man mit den E-Mails einfach nicht hinterher, sagt Schindler-Siegreich. Dafür gebe es viele Gründe, die schwer zu vermitteln seien. Zum Beispiel, dass kaum jemand in der Gemeinde fließend Deutsch spricht. Und dass die Gemeinde sich scheut, langfristig Termine festzulegen, weil darunter die Spontanität des Gemeindelebens leidet. Dazu kommt, dass sich parallel laufende Veranstaltungen in der offenen Architektur des Mainzer Gemeindezentrums gegenseitig stören.

selbstbewusstsein »Das Gemeindeleben darf nicht beeinträchtigt werden«, betont auch Nora Goldenbogen. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresden stellt aber gleichzeitig klar: »Wenn eine jüdische Gemeinschaft als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden will, gehört es dazu, sich ein bisschen selbstbewusst zu zeigen und sich nicht abzuschotten.«

Anfangs hatte die Dresdner Gemeinde nur angemeldete Gruppen zur Synagogenbesichtigung zugelassen. »Schnell stellten wir fest, dass das zu viele Leute enttäuscht. Die standen vor der Synagoge und konnten nicht rein«, erinnert sich Goldenbogen. Jetzt werden pro Woche meist mehrere öffentliche Führungstermine angeboten, die circa sechs Wochen im Voraus angekündigt werden. Wer als Tourist nur ein paar Tage in der Stadt ist, hat so die Chance, das Gotteshaus von innen zu sehen. »Das wird sehr honoriert«, weiß die Vorsitzende.

Nicht jeder fand die große Nachfrage toll. Doch das habe sich geändert, meint Goldenborgen: Heute sind viele Gemeindemitglieder stolz, dass ihr Haus so viele Neugierige aus dem In- und Ausland anzieht.

Arbeitsplatz Ein attraktives Gemeindezentrum ist selbst bei der Rabbinersuche von Vorteil, so scheint es. Die Jüdische Gemeinde Mainz hatte lange einen gesucht. Jetzt hat es geklappt: Vor Kurzem trat Julian-Chaim Soussan sein Amt in der neuen Synagoge an. Auch Dresden hat seit dem 1. November einen neuen Rabbiner. Alexander Nachama, frisch vom Abraham Geiger Kolleg, habe sich gefreut, nach Dresden zu kommen, »in eine schöne Synagoge, die in der Stadt eine Rolle spielt«, meint Goldenbogen.

Fünf Jahre ist es nun her, dass Gelsenkirchen seine neue Synagoge bekam. Doch die Gemeindevorsitzende, Judith Neuwald-Tasbach, freut sich immer noch über das aktive Gemeindeleben, das dadurch entstand. Auch in der Öffentlichkeit wird die Gemeinde jetzt stärker wahrgenommen. Nicht mehr nur zu Gedenktagen ist die Gemeinde in der Stadt nun ein gefragter Partner. Und was die Synagogenführungen angeht, sei das Interesse »von null auf 100« hochgeschnellt, berichtet Neuwald-Tasbach.

Für all das nehmen die jüdischen Gemeinden eine Menge Mehrarbeit in Kauf. Beispiel München: Neben angemeldeten Gruppen kann sonntags bis donnerstags jedermann zu festgelegten Terminen öffentliche Führungen besuchen. Morgens sind die Schulklassen dran, nachmittags die Erwachsenen. Geplant werden die Führungen vom eigenen Event-Management der IKG – was imposanter klingt, als es ist, denn dahinter steht nur ein Mitarbeiter.

freiberufler Anfangs versuchten die Münchener, jeder Gruppe ihre eigene Führung zu bieten. Die Folge: Das »Zelt Jakobs« war von morgens bis abends durch Besichtigungen belegt. Inzwischen fasst man die Besucher zu Gruppen à 80 Personen zusammen.

Die Führungen übernehmen Freiberufler. »Das ist eine verantwortungsvolle Arbeit, die zuverlässig klappen und honoriert werden muss«, meint Buck. Dabei sei es wichtig, dass alle Referenten Gemeindemitglieder sind. Auch in Mainz übernehmen Gemeindemitglieder die Führungen, sie arbeiten allerdings ehrenamtlich.

Die Jüdische Gemeinde zu Dresden hat den Vorteil, mit dem Verein Hatikva, der Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur Sachsen, von Anfang an einen erfahrenen Partner an ihrer Seite zu haben. Die Synagogenführungen übernimmt ein Team von 15 Leuten: Gemeindemitglieder, Hatikva-Mitarbeiterinnen und andere Unterstützer, die eng mit der jüdischen Gemeinde verbunden sind.

Unkosten Manche bekommen ein kleines Salär, andere erledigen den Job ehrenamtlich. Definitiv nicht ehrenamtlich zu bewältigen sei die Planung, betont Goldenbogen. Genau wie die Münchener erheben die Dresdner für Besichtigungen einen kleinen Unkostenbeitrag, um zumindest weitgehend die Ausgaben zu decken.

In Mainz bittet man die Besucher um Spenden. Für die Koordination der Besichtigungstermine und Sonderwünsche der Besuchergruppen leistet sich die Gemeinde eine Teilzeitkraft. Egal, ob eine Gruppe nach dem Syngogenbesuch ein koscheres Essen wünscht oder eine Gesprächsrunde mit Gemeindemitgliedern: »Für uns bedeuten solche Extras einen sehr großen Aufwand«, sagt Schindler-Siegreich.

unwissenheit Judith Neuwald-Tasbach in Gelsenkirchen führt fast immer selbst durch die Synagoge, im Schnitt zwei bis drei Gruppen pro Woche. Nicht nur, weil kein Geld da ist, um jemanden dafür zu bezahlen. Der Gemeindevorsitzenden ist es wichtig, den Besuchern die Fragen zur Religion und zur Verfolgung während der NS-Zeit beantworten zu können. Manchmal erschüttert sie die Unwissenheit gerade junger Besucher: »Einige können mit dem Namen Auschwitz nichts anfangen.«

Am Schabbat und an den Feiertagen bleiben die Synagogen den Betenden vorbehalten. »Es ist wichtig, immer zu betonen, dass es sich um ein Gotteshaus handelt und nicht um eine x-beliebige Touristenattraktion«, sagt Buck. Auch wenn dadurch mancher Besucher enttäuscht wird. Da hilft nur eins: einen Alternativtermin anbieten. »Wir sagen nie: Nein, das geht nicht! Vielmehr erklären wir, warum manche Termine unmöglich sind. Wir dürfen Besucher nicht ohne Grund ablehnen«, betont Buck.

Neuwald-Tasbach ist bereits bis Oktober 2013 gut gebucht. Da kann sie nicht jeder Gruppe ihren Wunschtermin bieten. Manche reagieren dann ein bisschen ungeduldig, aber die meisten haben Verständnis, wenn man ihnen erklärt, dass das aktive Gemeindeleben vorgeht. »Der glückliche Umstand ist ja gerade, dass wir den Menschen zeigen können: Es gibt wieder jüdisches Leben in der Stadt. Wir gehören nicht in ein Museum.«

Jom Haschoa

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