Porträt der Woche

Schach, aber nicht matt

Leonid Volschanik spielt seit seiner Kindheit. Im Hintergrund stehen die Pokale, die er im Laufe der Jahre gewonnen hat. Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

Schach, aber nicht matt

Leonid Volschanik trainiert Kinder und Erwachsene in der Münchner Gemeinde

von Katrin Diehl  28.08.2012 09:15 Uhr

Was ist der wichtigste Unterschied zwischen dem bösen Kapitalismus und unserem Sozialismus? Radio Eriwan weiß die Antwort: Beim Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus, beim Sozialismus ist es umgekehrt.

Diese Art von Humor gefällt mir. Das ist ein Witz mit Niveau. Etwa 30 Witze kann ich auswendig auf Deutsch aufsagen – eine Idee von einem guten Freund: Deutsch lernen mit Witzen. Es funktioniert auch mit Liedern. »Vor der Kaserne, vor dem großen Tor« könnte ich sofort anstimmen, oder »Horch, was kommt von draußen rein«.

ukraine Wir – meine Frau, ihre Eltern, die Schwester und ich – sind 1999 aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Eigentlich wollten wir, wie viele meiner Verwandten und Bekannten, nach Israel oder in die USA. Aber das hat nicht geklappt, obwohl ich schon angefangen hatte, Hebräisch zu lernen. Na ja, dann halt Deutschland. Meine Frau Elvira ist eine geborene Koblents – und dort wollte sie auch hin: nach Koblenz. Von dort kam nämlich ihr Großvater. Aber wir wurden nach München geschickt. Na ja, dann halt München.

Als wir ankamen, waren wir bereits im Rentenalter. Die Eltern meiner Frau sind mittlerweile gestorben. Ehrlich gesagt, habe ich nicht gedacht, dass ich auf meine alten Tage noch einmal das Land wechseln würde. Aber die Zustände in der ehemaligen Sowjetunion waren so schlecht. Alles zerfiel unter Jelzin. Mit den größten Werken ging es bergab, auch mit der Firma, in der ich als Konstrukteur arbeitete. Zwei Jahre lang haben die Menschen dort keinen Lohn bekommen. Also haben wir uns getrennt von Charkow, der Stadt, in der ich 1938 geboren wurde.

In München angekommen, lebten wir die erste Zeit in einem Wohnheim. Ein deutscher Mann hat dort mitgekriegt, dass ich Schach spiele. »Oh«, sagte er, »du spielst nicht schlecht«, und hat mich in den Schachverein Schwabing München Nord mitgenommen. Der Leiter dort hat mir gleich gefallen, er ist nett und gebildet. »Du musst Gebühren zahlen«, sagte er, »soundso viel pro Jahr.« »Das ist nicht wenig«, meinte ich. »Na ja«, sagte er, »schaun mer mal.«

Ich habe gegen die Besten gespielt, und der Leiter hat gejubelt. »Welchen Meister haben wir bei uns«, hat er gerufen, »welch ein Meister!« »Du bist Russe«, haben sie im Verein gesagt, »Russen können Schach spielen – und trinken. Willst du ein Bier oder einen Wodka?« Ich lehnte ab und sagte: »Vielleicht ein Glas Wein.« Da haben sie mir Wein gebracht, einen süßen. Ich wollte das Glas eigentlich wieder abstellen, aber dieser Wein ist mir geradezu die Kehle hinuntergeflossen, und noch ein Glas, und noch eins … »Ja, die Russen, die können trinken«, haben sie wieder gejubelt. Und als ich dann anfing, den Kindern dort Unterricht zu geben, musste ich keine Gebühren bezahlen. Bis heute spiele ich beim Schwabinger Verein, jeden Dienstag von abends bis in die späte Nacht.

wettkämpfe In der Gemeinde bin ich der Schachtrainer für Kinder und Erwachsene. Von unseren Erfolgen erzählen die Pokale in dem Zimmerchen gleich hinter der Sozialabteilung. Bei Wettkämpfen schneiden wir immer sehr gut ab, über Jahre tragen wir Siege nach Hause. Manchmal wünsche ich mir von der Gemeinde ein bisschen mehr Anerkennung dafür.

Montags trainiere ich die Erwachsenen und Rentner, am Sonntagnachmittag kommen für zwei Stunden die Kinder. Viele der Erwachsenen spielen in verschiedenen Münchner Vereinen. Ich bringe sie hier unter dem Dach der Gemeinde zusammen.

Bei den Kindern ist es in den ersten Jahren am wichtigsten, dass sie Spaß haben. Man darf nicht gleich mit Regeln kommen. Wenn ein Kind seine Liebe zum Schach gefunden hat, wird es nicht mehr aufhören zu spielen und immer besser werden. So war das auch bei mir.

Geboren wurde ich in Charkow, aber meine Kindheit habe ich im Wolgagebiet verbracht. Dorthin wurde meine Familie 1941 evakuiert. Mein Leben ist die Geschichte der Sowjetunion, ich könnte ein Buch daraus machen. Stalin hat im Krieg alle Deutschen aus dem Wolgagebiet nach Sibirien geschickt. Das waren ganz normale Menschen, die seit Katharina der Großen ihre Heimat dort gehabt hatten. Wunderbar waren sie eingerichtet, alles sauber und ordentlich. Dann mussten sie gehen, und wir kamen. Ich war gerade mal drei Jahre alt. Die Häuser der Deutschen waren noch warm, die Kühe kamen zu den Frauen gelaufen, auch zu meiner Mutter, weil ihre Euter so voll waren.

Alles Jüdische war natürlich verboten, aber trotzdem erinnere ich mich, dass meine Mutter mit dem Großvater Jiddisch gesprochen hat, wenn sie nicht wollte, dass wir Kinder sie verstehen. Wir waren sechs Geschwister, später nur noch vier, weil zwei verhungert sind. Mein Vater ist auch früh gestorben. Er war bei der Armee.

Wir lebten arm und hart. Die Tiere kamen zu uns ins Haus, um ihre Jungen auf die Welt zu bringen, weil die Kleinen sonst erfroren wären. In der Schule hatten wir so gut wie nichts, aber der Schulleiter konnte Schach und hat es uns Kindern beigebracht.

Mein Großvater war Rabbiner. Er hat sich in unserem Dorf regelmäßig mit anderen alten Juden getroffen. Das war natürlich verboten und für die ganze Familie äußerst gefährlich. Wenn er betete, habe ich an seinen Ziziot gezogen – und er mich an meinen Ohren. Ich glaube fast, dass ich wegen dieses Großvaters hier in München in den Synagogenchor gegangen bin.

Dafür musste ich allerdings erst einmal »entdeckt« werden: Beim Kinderschach in der Gemeinde ließ ich die Buben in den Pausen immer toben, mit den Mädchen sang ich ein paar hebräische Lieder. Das hat der Kantor gehört. »Du singst?«, fragte er. »Natürlich«, antwortete ich, »aus mir wäre fast ein Sänger geworden.«

trinklieder In Charkow, wohin wir 1955 zurückgekehrt waren, hatte ich mich am Konservatorium beworben und vorgesungen. Russische Trinklieder wollten die Professoren von mir hören, nur weil ich in meiner Kolchosekleidung angetreten war. »Nein«, habe ich gesagt, »ich möchte italienische Arien singen.« Die kannte ich aus dem Radio. Alle wurden still, und Kinder schauten zur offenen Tür herein. Ich habe sie beeindruckt; aber auf der Liste derer, die bestanden hatten, tauchte mein Name Leonid Abromicz, für Leiba Ben Avroam, nicht auf. Damals war ich 17 und habe geweint.

Zusammen mit meiner Zwillingsschwester Anna studierte ich dann am Technikum. Ich ging für ein Jahr nach Kasachstan, um Chruschtschows »Zelina«-Programm zu erfüllen, mit dem er die Erde fruchtbar machen wollte. Danach kam ich zur Armee. Ich saß in einer Iljuschin 28. Zweimal habe ich sie mit dem Fallschirm verlassen. 1967 habe ich schließlich meine Ausbildung als Bauingenieur beendet und dann eine Familie gegründet.

Als mein älterer Bruder in den 70er-Jahren starb, spürte ich einen Stich im Herzen. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander, die Trauer und der Stress schlugen mir aufs Herz. Nichts half mir – bis mir vor fast 40 Jahren eine Frau gymnastische Übungen zeigte. Seit dieser Zeit mache ich jeden Morgen eine Stunde Frühsport.

An schachfreien Tagen erledige ich für meine Familie den Papierkram, auch das braucht seine Zeit. Und manchmal steppe ich! Dass ich ein guter Tänzer bin, habe ich schon bei Aufführungen bewiesen und dafür Komplimente bekommen. Etwas fehlt mir allerdings in München – weniger etwas als jemand: meine Zwillingsschwester Anna. Ich wünschte, sie und ihre Familie kämen auch hierher.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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