Begegnung

Raum für das Unvergessene

Die gute Nachricht zuerst: Es werden mehr. Jetzt die ewig traurige: Henry, Chaim, noch ein Chaim, Natan … sie fehlen. »Sie sind von uns gegangen«, heißt es immer mal wieder leise, verhalten an diesem Nachmittag. Die, die ins »Einstein«, das Restaurant der Münchner jüdischen Gemeinde, gekommen sind, lassen sich nicht unterkriegen, sie machen weiter.

Wenn sich der Ankunftstrubel, das Rangieren der Rollatoren, das Verstauen der Mäntel und Mützen an der Garderobe gelegt hat, wenn die Seniorinnen und Senioren ihren Weg gefunden haben zum weiß eingedeckten Tisch, dann zeigt dieser Ort mitten in München, was er ist: ja, auch fein, aber jetzt vor allem anheimelnd, ein »Safe Space« und den rund 20 Männern und Frauen um die 80 (und auch weit darüber hinaus) sehr zugewandt. Es sind Menschen, die die Schoa überlebt haben, und Ehepartner, die sie durch das Leben danach begleiten oder begleitet haben.

Seit April 2016 gibt es das »Café Zelig«. Die Sozialabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) stand den Schoa-Überlebenden bereits zuvor mit einzelnen Diensten, Hilfestellungen oder Beratungsterminen zur Seite. Olga Albrandt, Leiterin der Sozialabteilung, und Joram Ronel, Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychotherapie sowie Innere Medizin, taten sich damals mit ihren Ideen zusammen.

Die alten Menschen sind eingeladen zu reden, aber auch zu schweigen, beides kann helfen

Man wolle Schoa-Überlebenden und deren Bedürfnis, offen zu reden (»Im Alter bricht sich die Vergangenheit oftmals endlich Bahn«), einen festen, definierten Platz geben, erklärte Ronel 2018 in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen. Die alten Menschen seien eingeladen, »zu reden, aber auch zu schweigen, beides kann helfen«. Es fand sich ein kleines, eifriges Team. Das »Café Zelig« stand und funktio­nierte.

»Zelig« kommt aus dem Jiddischen und beschreibt ein Gefühl der Sicherheit.

»Zelig«, das kommt aus dem Jiddischen, bedeutet »gesegnet« im religiösen Sinne, beschreibt darüber hinaus ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Sicherheit. Finanziert wird das Café bis heute – Taxis, Kaffee und Kuchen, das Fachpersonal wollen bezahlt sein – von der »Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« sowie der IKG, deren Präsidentin Charlotte Knob­loch das Projekt vom ersten Moment an unterstützte. Manchmal kommen Spenden hinzu.

»Am Anfang waren es so etwa fünf, die kamen, und dann sind es stetig mehr geworden«, sagt Mirjam Acoca-Pres, die Leiterin des Zelig. Zusammen mit Yaniv Kutschinski bildet sie das sozial­pädagogische Fachkräfteteam. Sie hat den Überblick, vor allem aber kennt sie die Geschichten jedes Einzelnen der »Zeligs«, kennt die Empfindlichkeiten, Eigenarten, weiß um die Zipperlein und Krankheiten, spürt, wenn nachjustiert werden muss. Eine Veränderung hatte es für alle im Mai 2019 gegeben. Da ist das Café Zelig umgezogen, von Schwabing, wo die Bʼnai Bʼrith-Loge Hebraica-Menorah die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hatte, in die Altstadt ins Gemeindezentrum am Sankt-Jakobs-Platz.

Es gibt ein Netz an Ehrenamtlichen

Seitdem findet das Café Zelig im Einstein statt, einmal in der Woche, und jedes Mal gibt es Programm. »Damit können wir uns wirklich sehen lassen«, sagt Acoca-Pres und wirft einen Blick auf die Ankommenden. »Obwohl wir in den letzten Jahren viele verloren haben, haben wir immer noch Damen und Herren, die wirklich seit neun Jahren mit von der Partie sind«, sagt sie. Mit dem Netz an Ehrenamtlichen (»Ich bin so stolz auf die, so dankbar!«) schaffe es das Zelig, seinen »Auftrag« der »psychosozialen Begleitung« zu erfüllen.

Das bedeute zweierlei. Einmal höre die Begleitung der alten Menschen im Alltag nicht auf. Leute aus dem Team treffen sich auch »außerhalb« mit den Seniorinnen und Senioren. Man ruft sich gegenseitig an, mache Krankenbesuche. Wenn jemand aus dem Kreis des Zelig stirbt, erscheine man als Café Zelig zur Bestattung. »Wir sind da meistens so zwischen sieben und zehn Leute und tragen die Trauer zusammen.« Die psychosoziale Begleitung betreffe aber auch den Umgang mit belastenden Themen oder Ereignissen, die alte Traumata wecken und wirken lassen könnten.

»Natürlich hat der Angriff Russlands auf die Ukraine etwas mit den Menschen hier gemacht, und natürlich verunsicherte und ängstigte der 7. Oktober 2023 unsere Leute enorm«, sagt Acoca-Pres, und dass da das Netz an beistehenden Menschen ebenso seine helfende Wirkung tue wie die feste Gemeinschaft, zu der es geworden sei. »Wir können mittlerweile über all das reden, können mit Themen wie Antisemitismus, Krieg, Verfolgung, Flucht umgehen. Die Gruppe ist stabil, nimmt Strategien an, die wir oder geladene Fachleute bieten«, sagt die Leiterin, und auch, dass das Zelig für einige der alten Menschen zum »Lebensmittelpunkt« geworden sei.

Das Programm des Zelig reicht von Lachyoga bis zu Quiz-Shows

Das Programm des Zelig reicht von Lachyoga bis zu Quiz-Shows. Es hat seine Kooperationspartner, die immer mal wieder jemanden vorbeischicken, der für Kurzweil sorgt. »Wir tragen dadurch, dass die Menschen ›von draußen‹ mit den Überlebensgeschichten konfrontiert werden, Verantwortungsbewusstsein in die Gesellschaft«, sagt Acoca-Pres. Studierende von der Musikhochschule geben ein Ständchen, jemand von der Caritas erklärt, wie so ein Smartphone funktioniert, Kinder von der Sinai-Schule tanzen vor, die Spielgruppe des israelischen Kulturvereins »Bayit« singt mit den Männern und Frauen zu den Feiertagen hebräische Lieder.

»Mehrgenerationenprojekte sind uns sehr wichtig«, betont Acoca-Pres, und auch, dass die Arbeit in näherer Zukunft sicher nicht weniger werde: Die Menschen werden älter, ihre Betreuung wird aufwendiger. Zudem hätten über die Claims Conference, die sich immer wieder auf die Suche nach Schoa-Überlebenden mache und im Kontakt mit der Gemeinde stehe, in den vergangenen Jahren weitere Senioren ins Zelig gefunden. »Einige davon waren einfach nicht so am Gemeindeleben beteiligt, und dadurch hatten wir sie nicht auf dem Schirm«, so Acoca-Pres.

Es geht auf fünf Uhr zu. Die Runde füllt sich. Wie in der Schule gibt es die, die immer zu früh sind, und die, die eher später eintrudeln. Theresia Johewet Rosendahl gehört zu den Pünktlichen. Sie kommt untergehakt bei ihrem Mann Gideon. Kaum sitzt sie, wird ihr ein bunter Blumenstrauß überreicht. Theresia strahlt. Sie hatte vor Kurzem Geburtstag, wurde 82. Man gibt ein Ständchen auf Deutsch, Englisch, Hebräisch, Polnisch. »Bis 120«, ruft jemand. »Ich werde mich bemühen«, antwortet Theresia. Alle lachen.

Theresia Johewet Rosendahl wurde als Kleinkind in einem Kloster versteckt

1943 im Ghetto Sosnowiec in Oberschlesien geboren, wurde Theresia Johewet Rosendahl als Kleinkind in einem Kloster katholischer Schwestern versteckt, so hat sie überlebt. Auch die Mutter überlebte und konnte sie nach dem Krieg dort abholen. Der Vater und die Großeltern sind von den Nationalsozialisten ermordet worden. »Ich komme regelmäßig ins Café Zelig«, sagt sie, und dass es hier die einen gebe, die sehr gern über die Vergangenheit sprächen, »andere wiederum wollen sich einfach locker unterhalten, und zu denen gehöre ich«. Aber dass sie sich trotzdem diese »Vergangenheitsgeschichten« interessiert anhöre, »weil dem anderen das ja wichtig ist, dass er das erzählt, und ich erinnere mich kaum an das, was mit mir geschehen ist damals, ich war viel zu klein«. Und was hat ihr besonders gefallen vom bisher gebotenen Programm des Zelig? »Die Folkloretänze vor ein paar Wochen.« Die Vorträge seien vor allem für die etwas, »die noch gut hören«, fügt sie lachend hinzu.

Nach seinem »ersten Café Zelig« sei er nach Hause gegangen und habe gedacht, »›alt sein‹ muss für mich jetzt neu definiert werden, in diesen Menschen lebte so viel Junges, so viel Lebendiges, auch so viel Humor, und das nach all ihren Geschichten«. Das sagt Wolfgang Doerfler. Er ist Arzt und hat die Menschen im Café Zelig zwei bis drei Jahre lang als Ehrenamtlicher begleitet. Er kam vorbei, setzte sich dazu, hatte ein offenes Ohr, warf seinen medizinischen Blick auf die Senioren, hielt Vorträge »über Gesundheitsvorsorge, auch über Nahrungsergänzungsmittel«.

Patrick Gorički ist neu unter den Ehrenamtlichen. Er ist 19, studiert Jura, geht einem Job nach, verbringt Zeit im Café Zelig, begleitet die Leute am Abend zum Taxi. Patrick mag die herzliche Atmosphäre, mochte »die Offenheit der Menschen von Anfang an, das ist ein großes Geschenk«.
Rosa Gutmann (77) ist mit ihrem Mann Wolf hier. Beide stammen aus Polen, aus Niederschlesien. »Man zieht sich an, macht sich ein bissl hübsch, und dann geht man los«, sagt sie, und dass sie nur komme, wenn auch ihr Mann gehe.

»Man zieht sich an, macht sich ein bissl hübsch und geht los«, sagt Rosa Gutmann.

Wolf Gutmann ist 1942 im Ghetto Lodz zur Welt gekommen. »Daran hat er natürlich keine großen Erinnerungen mehr«, und trotzdem finde er hier Menschen, die etwas mit ihm teilten, die in eine schreckliche Zeit geboren worden seien, sagt Hilde Grünberg (88). Sie kennt die Gemeinde gut. 15 Jahre lang hat sie in der Sozialabteilung der IKG gearbeitet. Im Café Zelig genießt sie es, unter Gleichgesinnten zu sein. »Man braucht da gar nicht viel zu sprechen«, sagt sie, »auch nach dem 7. Oktober, wir hatten keine Worte, haben aber die Verbundenheit untereinander gespürt.«

Der Lichtbildervortrag über Hawaii vor ein paar Wochen habe ihr gut gefallen, »und wenn die ›Omas gegen Rechts‹ kommen, freue ich mich immer besonders, Politik interessiert mich halt«. Hilde Grünbergs Mutter, ihre Tante und ihre Großmutter, die nach Theresienstadt deportiert worden war, haben überlebt, das Kind hatte man rechtzeitig in der Kinderlandverschickung untergebracht. »Das Gesellige ist wichtig. Vielleicht ist einem grad mehr nach einem Nickerchen zumute, aber nein, sagʼ ich mir dann, jetzt geht’s ins Zelig.«

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