Porträt der Woche

»Lyrik ist meine Religion«

»Meine größte Leidenschaft ist es, Geschichten zu erzählen«: Daniel Kahn lebt in Berlin, aber zieht demnächst nach Hamburg. Foto: Uwe Steinert

Porträt der Woche

»Lyrik ist meine Religion«

Daniel Kahn hofft als Musiker und Schauspieler auf baldige Auftritte

von Urs Kind  08.05.2021 23:12 Uhr

Meiner Hauptbeschäftigung als Musiker und Schauspieler kann ich so nicht mehr nachgehen. Denn alle Vorstellungen und Konzerte sind abgesagt und verschoben in eine ungewisse Zukunft. Das macht mir ganz schön zu schaffen, eröffnet aber auch einen ganz anderen Blick auf die Dinge und das eigene Leben.

All die digitalen Videokonferenzen sind auf der einen Seite an Oberflächlichkeit nicht zu übertreffen, auf der anderen Seite erlebe ich unter diesen Umständen eine Situation des intensiven Austauschs mit vielen Menschen, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre. Für mich ist es wie eine Renaissance der Vernetzung. Als Kompensation arbeite ich aktuell mehr an audiovisuellen Produktionen, sitze zu Hause und schneide Videos.

alltag Familiär hat dieser Alltag aber auch seine positiven Seiten, meine Frau und ich haben kurz vor dem ersten Lockdown unseren ersten Sohn bekommen, und wir genießen es natürlich, so viel Zeit zu dritt zu haben, das wäre sonst schwierig geworden mit all den Auftritten und Reisen.

Ich lebe jetzt seit etwa 15 Jahren in Berlin, so lange habe ich noch nie an einem Ort gelebt, außer in den ersten Jahren als Kind. Und tatsächlich habe ich auch das Land im letzten Jahr gar nicht verlassen, was sehr ungewöhnlich für mich ist.

Die Pandemie-Situation ist eine Renaissance der Vernetzung.

Geboren und aufgewachsen bin ich in der Nähe von Detroit, Michigan, einer Stadt mit vielen Migranten, als weißer amerikanischer Jude. Unsere Nachbarn kamen aus Griechenland, aus dem Irak. Wir gehörten einer liberalen Gemeinde an, und dort feierte ich meine Barmizwa.

rassismus-problem Aus dieser Situation heraus spürte ich nie eine Bedrohung für mich aufgrund meiner Religion, auch wenn für mich die Beschäftigung mit dem Rassismus-Problem in den USA schon immer ein wichtiges Thema war und ist.

Meine Mutter war 30 Jahre lang eine sehr gute Kindergärtnerin in einer armen Schule, mein Vater starb vor elf Jahren und war das, was man einen »Selfmademan« nennen kann. Er war Pilot, Unternehmer, hat mit Computern gearbeitet und regelmäßig für die Zeitung ein Kreuzworträtsel geschrieben. Eigentlich war er mehr ein Träumer, und seine vielen Unternehmungen waren eher nicht von Erfolg gekrönt, aber er konnte seine Träume ausleben, das war das Wichtigste für ihn.

Allerdings war es für ihn schwer, das Leben seines Sohnes zu verstehen, weil ich kein Interesse an seinen Geschäften und am Geldverdienen hatte. Ich glaube, es gelang ihm erst, als er mich in Berlin besuchen kam und feststellte, dass ich über die Runden komme.

FAMILIE Wir waren eine sehr amerikanische Familie. Ursprünglich kamen die Vorfahren meines Vaters 1869 aus Königsberg, die Familie meiner Mutter stammt zum Teil aus Galizien. Als Jugendlicher begann ich mit dem Theaterspielen und merkte, dass ich gern auf der Bühne stehe. So entschied ich mich dann auch nach der Schule, Schauspiel, Regie und Lyrik zu studieren.

Nach dem Studium verschlug es mich mit Freunden das erste Mal nach New Orleans, und ich begann als Songwriter meine eigenen Liedtexte zu schreiben und Musik zu machen. Etliche Jahre pendelte ich die weite Strecke zwischen Detroit und New Orleans, bevor ich 2001 endgültig umzog.

Es ist einfach meine größte Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, jeder Song hat für mich eine eigene Geschichte. Für mich gab es keinen großen Unterschied zwischen dem Theaterspielen und der Musik, mir geht es darum, Geschichten zu erzählen und eine Beziehung zum Publikum aufzubauen. Insofern kann man sagen, Lyrik ist meine Religion.

Einer der Gründe, weshalb es mich nach Berlin zog, war Bertolt Brecht.

Ich spielte auch weiter Theater und entdeckte meine Leidenschaft für Bertolt Brecht, was auch später einer der Gründe war, weshalb es mich nach Deutschland, nach Berlin, zog. 2004 versuchte ich dann, in New York zu leben, aber es gelang mir nie, mich in dieser Stadt richtig wohlzufühlen.

george w. bush Diese Zeit war stark geprägt von der Politik der Bush-Administration nach dem Irak-Krieg, und in mir reifte nach und nach der Gedanke, dass ich unter diesen Umständen nicht länger in diesem Land leben möchte. Die Wiederwahl von George W. Bush war einer der Auslöser für mich, das Land zu verlassen.

Ich hatte schon lange davon geträumt, in Europa zu leben. In einer eher spontanen Entscheidung beschloss ich 2005, nach Berlin zu ziehen, obwohl ich weder die Stadt noch Deutschland kannte oder Deutsch sprach. Ich kannte nur deutsche Literatur und das Theater.

Meine konkreteste Vorstellung von Berlin hatte ich durch den Film Der Himmel über Berlin von Wim Wenders bekommen, und ich war schon immer ein großer Fan der Musik von Nick Cave gewesen. Damals war es noch nicht so einfach, sich auf Englisch in der Stadt zu verständigen, daher war es für mich eine Zeit der Stille und des Zuhörens.

BAND Zunächst wohnte ich in der Wohnung eines Freundes und las die meiste Zeit. Der amerikanische Musiker Alan Bern hatte mich nach Berlin eingeladen und seine Wohnung untervermietet. Durch ihn und den engen Austausch mit der internationalen Community lernte ich jiddische Musik und die Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung, die mich noch heute inspiriert, besser kennen. Das war für mich eine Offenbarung und eine Quelle der Inspiration für meine Texte und meine Musik. Ich verstand, dass jiddische Kultur nicht kitschig und nostalgisch ist, sondern auch modern und progressiv.

Der Name meiner Band bezieht sich auf einen Roman des polnisch-amerikanischen Autors Jerzy Kosinski.

Kurze Zeit später gründete ich mit Freunden die Band »The Painted Bird«, mit der ich mittlerweile fünf Alben veröffentlicht habe. Der Name der Band bezieht sich auf den gleichnamigen Roman des polnisch-amerikanischen Autors Jerzy Kosinski aus dem Jahr 1965. In diesem Roman zieht ein Junge, der als »Jude oder Roma« bezeichnet wird, während des Zweiten Weltkriegs durch osteuropäische Dörfer.

Im Jahr 2019 wurde der Roman verfilmt unter der Regie von Václav Marhoul, lief auf vielen Filmfestivals und war als tschechischer Beitrag für den Auslandsoscar nominiert. Die Darstellung der Grausamkeit, die der Junge erlebt, erzählt allegorisch in eindrücklichen Schwarz-Weiß-Bildern, wozu Menschen fähig sind.

begegnung Für mich geht es mit den Liedern auch um eine Art der Begegnung mit Geschichte, die hier in Berlin so besonders präsent ist. Aber nicht nur historisch gesehen, sondern auch die aktuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte in der Schule ist ein zentrales Thema für mich, dafür finde ich den Begriff der »Gegenwartsbewältigung« sehr passend und prägnant. Insofern ist die Musik für mich auch eine Form der Therapie, da ich hier die Themen verarbeiten kann, die mich beschäftigen.

Man kann unsere Musik als Klezmer beschreiben, aber nicht ausschließlich, wir lassen uns von vielen unterschiedlichen Künstlern beeinflussen. Unsere Musik ist stark geprägt von Vorbildern wie Tom Waits oder Kurt Weill. Die Texte verfasse ich mal auf Deutsch, mal auf Englisch, Jiddisch oder auch Russisch. Die Idee zur Gründung der Band ging von mir als Songwriter und Sänger aus.

Meist bestand die Band aus vier Musikern, unsere Zusammensetzung wechselte im Laufe der Jahre immer wieder. Jetzt, nach fünf Alben, haben sich daraus viele andere Projekte ergeben. Die Musik ist meine Sprache, und die Band war für mich immer eine Möglichkeit des Ausdrucks und der Beschäftigung mit jiddischer Kultur und Identität.

ZUKUNFT In letzter Zeit arbeite ich auch viel mit meiner Frau Yeva zusammen an Performances und auch Übersetzungen aus dem Russischen. Sie stammt aus St. Petersburg, und somit ist russische Kultur nun auch Teil meiner Familie. Unser Sohn Leon wird Russisch sprechen wie auch Englisch, Deutsch und Jiddisch, aber vermutlich wird er Russisch viel schneller lernen als ich.

Meine Frau und ich haben uns im Jüdischen Museum Berlin kennengelernt, ich hatte dort einen Auftritt – und danach sind wir ins Gespräch gekommen. Zufällig sind wir uns kurze Zeit später wiederbegegnet, erst in einem Café, dann im Gorki Theater, wo ich in einem Stück mitspielte. Zwei Jahre später haben wir dann im Jüdischen Museum geheiratet. Aktuell sind wir beide als Teil des Kulturprogramms des Zentralrats unterwegs in vielen jüdischen Gemeinden und präsentieren eine musikalische und visuelle Landschaft der jüdischen Diaspora durch die Epochen.

Für die Zukunft hoffen wir natürlich, dass wir bald wieder Konzerte geben, Theater spielen und reisen können, aber das ist alles sehr ungewiss. Im letzten Herbst habe ich die Zeit genutzt und ein Soloalbum aufgenommen, das bald veröffentlicht wird. Und wir stehen kurz davor, Berlin zu verlassen und nach Hamburg zu ziehen, wo wir einen sehr schönen Ort für uns als Familie gefunden haben. Wir werden also in Deutschland bleiben − auch wenn ich viele Menschen in den USA vermisse und sobald wie möglich wieder dorthin reisen möchte.

Aufgezeichnet von Urs Kind

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