Porträt der Woche

Die Zuhörerin

»Bei der Arbeit gehe ich sehr offen mit meiner Religion um«: Mariya Dyskin (26) aus Bremen Foto: COSIMA HANEBECK FOTOETAGE

Porträt der Woche

Die Zuhörerin

Mariya Dyskin ist Psychologin und möchte sich auf Kriegstraumata spezialisieren

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.03.2025 09:33 Uhr

In meinem Freundeskreis war ich schon immer diejenige, die gut zuhören konnte, weshalb viele zu mir kommen, wenn sie einen Rat brauchen. Es war für mich seit jeher spannend zu sehen, dass ich jemanden mit Worten unterstützen kann, schwierige Situationen des Lebens zu meistern. Inzwischen empfinde ich es als eine große Ehre, wenn fremde Menschen mir in den Tiefen ihres Lebens als Psychologin derart viel Vertrauen entgegenbringen. Ich versuche, dabei diplomatisch vorzugehen und immer auch verschiedene Perspektiven einzunehmen. Dennoch habe ich stets mit Selbstzweifeln zu kämpfen, was – wie ich glaube – zur Persönlichkeitsstruktur eines jeden Psychologen gehört.

Seit meinem Master-Abschluss in Klinischer Psychologie vor etwas mehr als zwei Jahren arbeite ich in Teilzeit in der Psychiatrie und befinde mich zudem in der Ausbildung zur Psychotherapeutin. Schon während meines Studiums habe ich begonnen, in einer psychiatrischen Beratungsstelle mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Das war für mich eine sehr spannende Arbeit. Inzwischen beschäftige ich mich allerdings mehr mit Verhaltenstherapien für Erwachsene.

In Zukunft möchte ich mich auf die Behandlung von Kriegstraumata spezialisieren, denn in der Psychiatrie begegne ich Patienten – und vor allem Patientinnen –, die wegen des Krieges in der Ukraine zu uns nach Deutschland gekommen sind. Viele haben auch aufgrund ihrer Flucht keinen Zugang zu notwendigen Medikamenten, was ihren physischen Zustand weiter verschlechtert.

Arbeit in einer psychiatrischen Beratungsstelle mit Kindern und Jugendlichen

Es gibt noch nicht sehr viele Psychologen oder Psychotherapeutinnen, die meine Kultur verstehen, die mit den jüdischen Kontingentflüchtlingen in dieses Land gekommen ist. Wenn man aber jemandem gegenübersitzt, der das nachvollziehen kann, hat die Beziehungsgestaltung gleich eine ganz andere Grundlage.

In der Arbeit gehe ich sehr offen mit meiner Religion um. Und obgleich wir auch Patienten haben, die aus dem Iran oder aus Syrien geflohen sind, habe ich noch keine Erfahrungen gemacht, die ich als antisemitisch einordnen würde. Nach dem 7. Oktober 2023 hatte ich allerdings zeitweise Bedenken, ob ich den Davidstern noch offen tragen kann. Diese Bedenken rührten daher, dass wir einen hohen Anteil muslimischer Kollegen haben. Ich wollte deshalb erst einmal beobachten, ob ich in dieser Situation womöglich anders betrachtet und angesprochen werde. Aber auch das hat sich zum Glück nicht als negativ herausgestellt.

Geboren wurde ich in der ukrainischen Stadt Krementschuk. Im Alter von vier Jahren kam ich mit meiner Familie nach Bremen. Ich erinnere mich nicht gut an diese Zeit, aber meine Eltern haben mir erzählt, dass ich im ersten Jahr in Deutschland nur wenig gesprochen, aber alles ganz interessiert beobachtet hätte. Vielleicht lässt sich von da aus eine Brücke schlagen zu meinem Beruf jetzt. Nach diesem Jahr, in dem ich einen Kindergarten besuchte, habe ich plötzlich ganz viel geredet, und das auf Deutsch. Später besuchte ich mit meiner Schwester das jüdische Jugendzentrum in Bremen. Sie fuhr auch zu den Machanot, ich aber nicht. Mich grauste die Vorstellung, dass ich in eine große Gruppe von Kindern aus ganz Deutschland komme und womöglich auf sie zugehen muss. Ich war damals sehr schüchtern.

Ich war an meiner Schule ab der 9. Klasse Streitschlichterin.

Meine Eltern, meine Schwester und auch die Leute im Jugendzentrum versuchten, mir die Angst zu nehmen und mich zu motivieren. Doch ohne Erfolg. Im Alter von 13 Jahren habe ich dann ein Stipendium bekommen, das man Schülern gewährt, die gute Noten haben und sich sozial engagieren. Ich war an unserer Schule als Streitschlichterin und als Schulsanitäterin tätig. Ich hatte mich in der 8. Klasse darum beworben. Nachdem man es mir zugesprochen hatte, musste ich mich in einer Gruppe von Stipendiaten aus ganz Deutschland zurechtfinden.

Das war zunächst nicht leicht, hat mir letztlich aber eine solch positive Erfahrung beschert, dass ich schließlich meine Schüchternheit überwunden habe. Das Stipendium beinhaltete ein monatliches Bildungsgeld, von dem ich mir Bücher kaufen und Weiterbildungen finanzieren konnte, wie zum Beispiel Klavierunterricht. Es gab aber auch Seminare zur persönlichen Entwicklung, wie etwa in Rhetorik oder solche für Kreatives Schreiben.

Auch zum Kabbalat Schabbat war ich fast immer in der Synagoge

Die Batmizwa habe ich nicht gemacht, und das hatte Gründe, die mit meiner Schule in Verbindung standen. In unserer Schülerschaft war der Migrationsanteil sehr hoch, und das Wort Jude galt als Schimpfwort. Niemand in meiner Klasse wusste, dass ich jüdisch bin, auch meine Freundinnen nicht. Vor diesem Hintergrund hatten meine Eltern die große Sorge, dass es für mich Nachteile in der Schule bringen könnte, wenn ich meine Batmizwa mache und meine Freundinnen dorthin einladen würde. Meine Schwester, die vier Jahre älter ist als ich, hatte aus demselben Grund auch schon auf die Batmizwa verzichtet. Allerdings verkehrte ich nach wie vor im Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde, und auch zum Kabbalat Schabbat war ich fast immer in der Synagoge.

Nachdem ich angefangen hatte zu studieren, war ich vom Studium so beansprucht, dass ich kaum anderen studentischen Aktivitäten nachgehen konnte. Inzwischen aber bin ich bei fast jeder Veranstaltung der Jüdischen Studierendenunion in Bremen dabei, weil ich gern diesen Kontakt habe, mit den anderen zusammensitze und wir uns über unsere unterschiedlichen Erfahrungen austauschen.

Neben der jüdischen Gemeinde gibt es hier in Bremen ein Zentrum von Chabad, beide kooperieren miteinander. Ich nehme regelmäßig am Tora-Unterricht für Frauen und an anderen Veranstaltungen, die für junge Erwachsene angeboten werden, teil. So gibt es bei Chabad einmal in der Woche jüdischen Ethik-Unterricht und an den Feiertagen gemeinsame Abendessen.

Mit Freundinnen am Freitagabend ausgehen

Meine religiöse Einstellung aber würde ich eher als traditionell denn als orthodox bezeichnen. Mir sind die jüdischen Werte wichtig, aber trotzdem möchte ich mit meinen Freundinnen am Freitagabend auch mal ausgehen. Da die Mehrheit von ihnen nicht jüdisch ist, beschreite ich da meinen eigenen Mittelweg.

Meine Mutter hat eine sehr große Familie. Ihre Eltern und auch ihre Schwestern sind damals nach Israel ausgewandert, weshalb ich heute viele Verwandte dort habe. Immer wenn wir hinfliegen, sind wir zehn bis 14 Tage im Land unterwegs, um jeden Tag einen anderen Verwandten zu treffen. Da ich mir von dem Stipendium damals einen privaten Hebräisch-Unterricht finanzieren durfte, habe ich heute noch Grundkenntnisse, auch wenn viele Vokabeln im Laufe der Jahre verloren gegangen sind. Lesen und Schreiben aber kann ich in Iwrit nach wie vor.

Wenn ich in Israel aus dem Flugzeug steige, empfinde ich ein Gefühl von Heimat, vor allem aber von Sicherheit. Wenn ich das hierzulande so äußere, schauen mich viele meiner nichtjüdischen Mitmenschen oft merkwürdig an. Sie können nicht verstehen, dass ich mich in einem Land, das derart von außen bedroht wird, sicher fühle. Ich sage dann immer, dass ich das nicht erklären kann. Aber ich weiß für mich, dass ich mir in der jüdischen Mehrheitsgesellschaft in Israel keine Sorgen machen muss, ob der Mensch, dem ich begegne, weiß, dass ich jüdisch bin, oder ob ich meinen Davidstern verstecken sollte.

Alija und Sonnenallergie

Nach meinem Abitur hatte ich eigentlich vor, für ein Freiwilliges Soziales Jahr nach Israel zu gehen, dann aber wurde mein bereits zugesagter Platz in einem Krankenhaus kurzfristig abgesagt. Die Alija kommt für mich nicht infrage, weil sich inzwischen herausgestellt hat, dass ich eine Sonnenallergie habe, weshalb meine Verwandtenbesuche nur während der entsprechenden Jahreszeiten stattfinden.

Aufgrund meines Jobs in der Psychiatrie und der Weiterbildung ist mein Leben derzeit komplett durchgetaktet. Ich plane, in zwei Jahren meine Ausbildung zur Psychotherapeutin abzuschließen. Was meine private Zukunft angeht, so habe ich den Wunsch, irgendwann einen jüdischen Partner zu finden, mit dem ich eine Familie gründen und eine jüdische Atmosphäre in einem gemeinsamen Heim schaffen kann. Aber ich kann natürlich nicht wissen, ob Haschem das für mich bereithält.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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