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Mainz

Der Blick fürs Wesentliche

Es waren einmal zwei außergewöhnliche Männer, die lebten im weißrussischen Witebsk. Den einen, Moishe Shagalov, zieht es 1910 nach Paris. Als Marc Chagall wird er berühmt und bleibt der Nachwelt als Maler und Künstler unvergessen. Der andere heißt Max Penson und ist bettelarm. Er flieht vor dem Krieg, den Pogromen und vor der Armut zu seiner Schwester, einer eingeheirateten Fabrikbesitzerin, nach Usbekistan und bleibt dort.

1920 erhält er eine Kamera, und sein Leben verändert sich grundlegend. Er arbeitet mit Alexander Rodshenko zusammen, damals ein großer russischer Maler, Grafiker und Fotograf. Er ist mit Regisseur Sergej Eisenstein befreundet. Er ist ein Mann, der mit Kamera und Objektiv und mit offenen Augen durch sein Land zieht. Er zeigt Armut und Reichtum einer Region, hält Aufbruch und Herausforderung fest. Die harte Arbeit der Bauern, die rasante Zeit der Industrialisierung, den Kampf zwischen Tradition und Moderne, Frauen im Schleier und auf dem Traktor, den Großen Krieg um die Heimat. Es sind authentische Bilder, denn Max Penson, der selbst vier Kinder zu ernähren hat, weiß, was Kämpfen bedeutet: Seine Filme entwickelt er selbst, obwohl er zu Hause nicht einmal fließend Wasser hat.

Seine Arbeit führt ihn hinaus in die Welt, in Frankreichs Metropole, wo er Chagalls Wege kreuzt. Auf der Weltausstellung 1937 erhält er eine Goldmedaille für ein Foto, das in jener Zeit einer Sensation gleichkommt: Max Penson zeigt den berührend intimen Moment, in dem eine junge Frau ihr Kind stillt. Das Werk heißt ganz schlicht »Uzbekische Madonna«.

vergessen Der Fotograf ist ein Ausnahmetalent, zu seiner Zeit ein Star – doch heute ist er fast vergessen. »Mein Vater hatte wache Augen und einen klaren Blick«, erzählt sein Sohn Zakhar Penson 73 Jahre später im Rückblick. Seit 1998 lebt der heute 79-Jährige in Ingelheim. Er ist mit seiner Frau nach Deutschland gekommen, weil er zu Hause die antijüdischen Ressentiments nicht länger ertragen wollte.

Heute bemüht er sich, die Arbeiten seines Vaters wieder in Erinnerung zu bringen. Denn Max Penson, der schließlich als anerkannter Fotoreporter bei der »Prawda Wostokaja«, der Ostausgabe der »Prawda«, arbeitet, fällt wie viele Juden in der Stalin-Zeit in Ungnade. 1949 erhält er Berufsverbot. Die falschen Bilder, die falschen Protagonisten: Allein das bedeutet das Aus für einen Patrioten, als der er sich versteht. Zehn Jahre später stirbt Penson tief deprimiert. Drei Jahrzehnte und eine Perestroika später sind die Arbeiten Pensons in der Sowjetunion wieder zu sehen.

afghanistan Natürlich weiß auch Zakhar Penson um die Macht von Bildern. Auch er ist nach einem Filmstudium in Leningrad diesem Metier treu geblieben. Er hat großes Glück und spricht von einem »erfüllten Leben«. Als Dokumentarfilmer kann er nicht nur in der halben Welt arbeiten, darf Angola, Mosambik oder Syrien bereisen. Wichtig ist Zakhar Penson dabei eins: dass er einen Fotoapparat dabei haben darf. Wenn er heute gefragt wird, welches Land, welches Thema ihn am meisten geprägt hat, dann muss er nicht lange überlegen. »Das ist Afghanistan«, sagt er ohne Zögern. Fünfzehn Mal ist er dort gewesen – vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1979 und danach. »Am meisten hat mich die Armut berührt – man hatte immer das Gefühl, 200 Jahre zurückversetzt worden zu sein.«

Zakhar Penson, der als Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Mainz sein Wissen auch an Jüngere weitergibt, findet es wichtig, dass Bilder als das Gedächtnis einer Nation bewahrt werden. Nicht zuletzt deshalb hat er sich entschlossen, ab dem 17. Oktober Aufnahmen des Vaters, aber auch eigene Arbeiten in der Jüdischen Gemeinde zu Dessau auszustellen. Selbst wenn inzwischen manches der historisch wichtigen Negative verschwunden, wenn man- cher Streifen Zelluloid beschädigt ist – der Mann, der im Dezember 80 Jahre alt wird, weiß das Erbe in guten Händen. Aufnahmen vom Vater und ihm sind in Taschkent gesichert und sollen Stück für Stück aufgearbeitet werden.

Nur ein Motiv sucht Zakhar Penson vergebens: eine Aufnahme mit seinem Vater. Und er weiß, dass er sie nicht finden wird. »Er hat sich zum einen nicht gerne fotografieren lassen. Zum anderen war ihm das Geld für Familienaufnahmen zu schade.«

Fotos von Max und Zakhar Penson ab 17. Oktober, Jüdische Gemeinde Dessau, Kantorstraße 3, mo. bis do.: 11 bis 14 Uhr

Jom Haschoa

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