Würdigung

Begegnungsort in Mitte

Kurz nach 12 Uhr ertönte am vergangenen Freitag ein klassisches Streichtrio in dem kleinen Park im Dreieck zwischen Gormannstraße und Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte. Es waren Musiklehrer der nahe gelegenen Freien Waldorfschule, die hier aufspielten. Kurz darauf ertönten die Stimmen ihrer Schüler, die im gemischten Chor Melodien aus Mozarts Entführung aus dem Serail zum Besten gaben. Dies war Auftakt und kultureller Rahmen jener würdevollen Ausführungen, in denen begründet wurde, weshalb der anfangs noch namenlose Park am Ende der Zeremonie den Namen von Jacob Teitel tragen würde.

Die Historikerin und Dramaturgin Elena Solominski aus Düsseldorf, die einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass es überhaupt zu dieser Namensgebung gekommen ist, stellte in ihren Ausführungen einen Bezug her zwischen dem Ort und dem künftigen Namensgeber. Jacob Teitel, ein russischer Jurist, war einstmals der erste – und lange Zeit auch der einzige – jüdische Richter im Zarenreich. Er war bereits 70 Jahre alt, als er im April 1921 gemeinsam mit großen Teilen der russisch-jüdischen Intelligenz nach Berlin übersiedelte.

KINDERRECHTE In ihrer Würdigung seines Wirkens bezeichnete es Elena Solominski als eines seiner größten Verdienste, dass sich Jacob Teitel mit dem »Verband russischer Juden in Deutschland« für die internationale Anerkennung der Rechte jüdischer Flüchtlinge zu Beginn der 1920er-Jahre eingesetzt habe. Wie keine andere Flüchtlingsorganisation in Deutschland habe der Verband aktiv für die Ausgabe von Nansen-Pässen gesorgt, also Reisepässen für staatenlose Flüchtlinge, »was wesentlich zur Rettung nicht weniger Menschen aus Deutschland beitrug. Er selbst stand für die Integration der Einwanderer, vermittelte Arbeits- und Lehrstellen, warb aber auch unermüdlich Gelder für Transitauswanderer ein«, so Solominski.

Jacob Teitel wollte jüdische Flüchtlinge mit Berliner Kindern zusammenbringen.

Der Ort, an dem der Park liegt, hat aber auch einen ganz konkreten Bezug zu Jacob Teitels weiterem Wirken, welches wiederum das Engagement der Waldorfschule für diese neue Namensgebung erklärt. An ihrer Stelle stand nämlich bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das »Israelitische Heimathaus«, und hier fand am 23. November 1923 ein historisch zu nennendes Ereignis statt. Jacob Teitel hatte eine Kinderversammlung organisiert, und auf Wunsch dieser Kinder entstand an jenem herbstlichen Freitag, gerade einmal vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die »Weltvereinigung ›Kinder-Freunde‹«.

Fast auf den Tag genau, 66 Jahre, bevor in der UN-Vollversammlung die Kinderrechtskonvention beschlossen wurde, war in Berlin auf Initiative von Jacob Teitel eine der ersten Kinderrechtsorganisationen gegründet worden. Sie sah ihre Aufgabe darin, Flüchtlingskinder mit Berliner Kindern in Kontakt zu bringen.

REFORMPÄDAGOGIK Bald versammelten sich an Wochenenden bis zu 1000 Kinder. Die Tätigkeit der Vereinigung war von zahlreichen reformpädagogischen Innovationen geprägt wie einer Kinderselbstverwaltung, kreativer Betätigung, Musikunterricht und der Bewältigung des gemeinsamen Alltags. Solidarität, Freundschaft und soziales Engagement standen im Fokus des Erziehungssystems.

Als Lehrer, Lehrerinnen und Betreuer standen den Kindern jüdische Intellektuelle zur Seite, darunter die Dichterin Mascha Kaléko und ihr Ehemann, der Sprachlehrer Saul Kaléko, der Arzt Fischl Schneersohn und viele andere.

Die Weltvereinigung »Kinder-Freunde« existierte bis 1935. Dann stellte sie wegen der zunehmenden Auswanderung der Juden aus Berlin ihre Tätigkeit ein. Mehr als zehn Jahre lang wirkten hier in unmittelbarer Nähe zum Park auch noch weitere von Teitel initiierte Kinderorganisationen: das Teitelsche Kinder- und Jugendhaus und die Jacob-Teitel-Kantine. Sie leisteten unter anderem einen wichtigen Beitrag zur jüdischen Winterhilfe.

VISION Die Freie Waldorfschule Berlin-Mitte hat sich in zahlreichen Projekten mit der Geschichte ihres Standortes in der Vor- und Kriegszeit befasst. Das sichtbare Ergebnis dieser Arbeit sind mehrere Stolpersteine vor den Schuleingängen.

In seiner Ansprache zeigte sich Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, davon überzeugt, dass möglichst viele Menschen sich durch die Umbenennung des Parks anregen und durch den neuen Namen inspirieren lassen, sich mit Teitels Aktivitäten zu beschäftigen. Und das trage bereits »die Vision von einer Gesellschaft in sich, in der Solidarität und Empathie über Stigmatisierung und Ausgrenzung siegen und in der die Bedürfnisse, Rechte und Potenziale von Kindern und Jugendlichen stärker wahrgenommen werden«.

Zu den Lehrern gehörte auch die Dichterin Mascha Kaléko.

Ein Optimismus, den auch Elena Solominski in ihrer Rede aufgriff: »Der Park wird eine großartige Begegnungsstätte für Kinder und Jugendliche sein: ein Ort für Ideen und Projekte, die Jacob Teitels Werk fortsetzen werden.« Ebenso werde den Menschen die Idee der Hilfsbereitschaft und der Solidarität vermittelt und die Kinder und Jugendlichen beflügelt.

QR-CODE Sicherlich war jedem der anwesenden Besucher der Veranstaltung klar, dass der neue Name des Parks allein noch kein Garant dafür ist, dass sich all dies auch einstellt. Da ist der pragmatische Vorschlag sicher von manchem als angenehm empfunden worden, den Ilan Kiesling von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in seinem Grußwort anregte. Man könne doch, wie dies auch schon am Koppenplatz, knapp zehn Minuten Fußweg vom Jacob-Teitel-Platz entfernt, eingerichtet worden sei, irgendwo gut sichtbar einen QR-Code anbringen, der interessierten Bürgern auf Klick sofort Informationen über das Wirken des Namensgebers aufs Smartphone spiele.

Die Namensgebung erfolgte durch Enthüllung einer Plakette. Schüler und Schülerinnen der Freien Waldorfschule Berlin-Mitte ließen zudem Luftballons steigen, und Nana Göbel vom Vorstand des »Vereins Freunde der Erziehungskunst« erklärte gegenüber dieser Zeitung, dass ihre Organisation sich als Erbe der pädagogischen Ideen von Jacob Teitel versteht: »Wir knüpfen an die Tradition von Teitels Weltvereinigung ›Kinder-Freunde‹ an.«

Digitales Gedenken

App soll alle Stolpersteine Deutschlands erfassen

Nach dem Start in Schleswig-Holstein soll eine App in Zukunft alle Stolpersteine in Deutschland erfassen. In der App können Biografien der Opfer abgerufen werden

 24.11.2025

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

München

Nicht zu überhören

Klare Botschaften und eindrucksvolle Musik: Die 39. Jüdischen Kulturtage sind eröffnet

von Esther Martel  23.11.2025

Berlin

Gegen den Strom

Wie der Ruderklub »Welle-Poseidon« in der NS-Zeit Widerstand leistete und bis heute Verbindung zu Nachfahren seiner jüdischen Mitglieder pflegt

von Alicia Rust  23.11.2025

Porträt

Glücklich über die Befreiung

Yael Front ist Dirigentin, Sängerin, Komponistin und engagierte sich für die Geiseln

von Alicia Rust  22.11.2025

Berufung

Schau mal, wer da hämmert

Sie reparieren, organisieren, helfen – und hören zu: Hausmeister von Gemeinden erzählen, warum ihre Arbeit als »gute Seelen« weit mehr ist als ein Job

von Christine Schmitt  21.11.2025

Spremberg

Gegen rechtsextreme Gesinnung - Bürgermeisterin bekommt Preis

Rechtsextreme sprechen im ostdeutschen Spremberg vor Schulen Jugendliche an. Die Schüler schütten ihrer Bürgermeisterin ihr Herz aus - und diese macht das Problem öffentlich. Für ihren Mut bekommt sie jetzt einen Preis

von Nina Schmedding  21.11.2025

Mitzvah Day

Im Handumdrehen

Schon vor dem eigentlichen Tag der guten Taten halfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats bei der Berliner Tafel, Lebensmittel zu prüfen

von Sören Kittel  20.11.2025

Interview

»Selbst vielen Juden ist unsere Kultur unbekannt«

Ihre Familien kommen aus Marokko, Libyen, Irak und Aserbaidschan. Was beschäftigt Misrachim in Deutschland? Ein Gespräch über vergessene Vertreibungsgeschichten, sefardische Synagogen und orientalische Gewürze

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.11.2025