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Solidarität

Arm im Alter

Wasser und Brot: Die meisten zugwanderten jüdischen Senioren müssen von der Grundsicherung leben. Foto: dpa

Es ist eine Frage der Perspektive: »Bei uns gibt es keine Altersarmut«, heißt es in manchen jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland. »Die Leute bekommen Grundsicherung, damit ist alles Nötige abgedeckt. »Grundsicherung«, schnaubt Feliks Byelyenkow, Vorsitzender der Gemeinde Stadt Brandenburg. »Das bedeutet, am Boden zu sein. Bei uns macht es sich bemerkbar, dass die meisten Gemeindemitglieder arm sind.« Zahlreiche jüdische Gemeinden in den ostdeutschen Bundesländern teilen Byelyenkows Einstellung: »Für uns ist die Lage der alten Menschen das wichtigste Thema«, meint Diana Sandler, Vorsitzende der Gemeinde Landkreis Barnim.

Studie Gerade im Osten Deutschlands ist Altersarmut ein Problem – und die Lage wird in den nächsten Jahren noch kritischer werden. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle. Nach einer Hochrechnung der Einkommen in der Altersgruppe 65 bis 70 Jahre für das Jahr 2013 steigt der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, um 4,4 Prozentpunkte auf 17,2 Prozent. Schuld daran sind Arbeitslosigkeit und geringe Einkommen. Wer schlecht qualifiziert ist, ist besonders betroffen.

Schlecht qualifiziert sind die Senioren in den jüdischen Gemeinden nicht. Unter ihnen sind zahlreiche ehemalige Lehrer, Ärzte oder Ingenieure. Doch sie haben ihr Arbeitsleben nicht in Deutschland verbracht und bekommen deshalb hier keine Rente. Mehr als 90 Prozent von ihnen sind Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion. Mehr als die Hälfte sind im Seniorenalter. Sie erhalten eine Grundsicherung.

»Aus Sicht vieler Zuwanderer ist das Niveau der sozialen Unterstützung in Deutschland ziemlich hoch«, weiß Juri Rosov von der Jüdischen Gemeinde Rostock. Trotzdem: Große Sprünge sind nicht drin, schließlich sind auch die Lebenshaltungskosten in Deutschland hoch. Dennoch unterstützten manche der alten Leute sogar noch die Familie in der Ukraine oder in Weißrussland.

Kritik gibt es an der Praxis, von der Grundsicherung die meist geringe Rente, die die Zuwanderer aus ihrer Heimat bekommen, abzuziehen. Und: Hinzuverdienen darf man nichts. Selbst wer noch rüstig ist, hat keine Chance, durch Arbeit sein Einkommen zu verbessern. »Das sollte die Politik ändern«, so der einhellige Tenor in den jüdischen Gemeinden.

Befristet Finanziell unterstützen können die jüdischen Gemeinden ihre Mitglieder nur selten. »Wir sind arm«, stellt Feliks Byelyenkow fest. »Für bestimmte lebenswichtige Ausgaben, etwa für Medikamente, versuchen wir die Kosten zu übernehmen. Eine ähnliche Initiative der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland war zeitlich begrenzt«, bedauert der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle an der Saale, Max Privorozki.

Die prekäre Lage ihrer Mitglieder hat auch Konsequenzen für die Gemeinden, deren Kassen leer bleiben. Mitgliedern, die auf soziale Unterstützung angewiesen sind, erlassen manche Gemeinden ihre Monatsbeiträge ganz oder beschränken sie auf einen oder zwei Euro. Einige Gemeinden unterhalten Kleiderkammern, organisieren Besuchsdienste für Alleinstehende, gehen für die alten Menschen einkaufen und putzen die Wohnung oder helfen ihnen beim Gang zu Behörden oder zum Arzt.

Die meisten Gemeinden haben nur eine oder zwei bezahlte Sozialarbeiterstellen, deren Zukunft ebenfalls ungewiss ist. Ohne den Einsatz vieler Freiwilliger wäre Hilfe für Alte und Kranke nicht zu leisten. »Wir tun viel dafür, dass die alten Leute nicht vereinsamen«, sagt Küf Kaufmann, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft zu Leipzig. So finden regelmäßig Konzerte mit Solisten des Leipziger Gewandhausorchesters oder der Berliner Philharmoniker statt. Eintritt für Gemeindemitglieder: drei bis fünf Euro.

engpass So engagiert die Gemeinden auch sind: Letztlich fehlt an allen Ecken und Enden Geld. In Dresden wünscht man sich ein Fahrzeug, mit dem Gehbehinderte zu Veranstaltungen gebracht werden könnten. An der Finanzierung scheitern in der Elbestadt derzeit auch noch die Seniorenheimplätze für jüdische Bürger, obwohl die Planung für eine Altersheim-Abteilung mit russischsprachigem Personal steht.

Feliks Byelyenkow in Brandenburg bemüht sich bisher vergebens bei den russischen Behörden um bessere finanzielle Unterstützung der Kriegsveteranen.

Die Gemeinde Barnim braucht dringend einen eigenen jüdischen Friedhof. Bislang werden die Toten im 150 Kilometer entfernten Potsdam beerdigt. Die Fahrt dorthin können sich viele Angehörige nicht leisten.

Die Hallenser Studie sagt wachsende finanzielle Probleme für Senioren voraus. Und auch in den jüdischen Gemeinden sieht man die nächsten Jahre eher pessimistisch. Denn: Viele Zugewanderte im erwerbsfähigen Alter sind arbeitslos oder haben schlecht bezahlte Jobs, weil ihre Qualifikationen in Deutschland nicht anerkannt werden. Besser wird die Lage wohl erst mit der Generation der Enkel, meint zum Beispiel Küf Kaufmann: »Viele junge Leute studieren, sie sind ehrgeizig und gut integriert. Sie haben gute Chancen.«

Jom Haschoa

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