Bereschit

Wir haben die Wahl

»Kain nach dem Mord an seinem Bruder Abel«: Skulptur von Henri Vidal (1896), Tuilerien, Paris Foto: imago images/viennaslide

Bereschit

Wir haben die Wahl

Die Geschichte von Kajin und Hewel mahnt uns, die eigenen Gefühle nicht zu unterschätzen

von Rabbiner Alexander Nachama  21.10.2022 12:45 Uhr


Die erste Parascha des Lesezyklus erzählt uns nicht nur über die Schöpfung von Himmel und Erde sowie über die Vertreibung von Adam und Chawa aus dem Garten Eden, sondern auch von einem Mord. Es ist der Konflikt zwischen den Brüdern Kajin und Hewel, der innerhalb weniger Verse eskaliert.

Dabei beginnt die Geschichte positiv. Chawa gebiert zwei Kinder, der eine Sohn, Kajin, wird Ackerbauer, und der andere, Hewel, wird Schafhirte. »Und es war nach Verlauf einer Zeit, da brachte Kajin von der Frucht des Bodens ein Opfer dem Ewigen.«

Was mag Kajin dazu bewogen haben, Gott ein Opfer darbringen zu wollen? Vorbilder, denen er hätte folgen können, gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine. Über Kajins Beweggründe schweigt die Tora. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) vermutet in seinem Kommentar: »Sie (die Opfer) sind so alt wie die Menschheit und müssen daher der natürliche Ausdruck reiner menschlicher Empfindungen und Gedanken sein.«
Die Motive mögen unterschiedlich sein: ob aus Dankbarkeit, Freude, Trauer, Zeichen der Verbundenheit oder anderen Gründen. Es ist der Versuch, Wege zu finden, um mit Gott verbunden zu sein.

OPFER Hewel folgt dem Beispiel Kajins und bringt ebenfalls Opfer dar: »Und Hewel brachte, auch er, von den Erstlingen seiner Schafe, und zwar von den fetten; da wandte sich der Ewige zu Hewel und seinem Opfer. Aber zu Kajin und seinem Opfer wandte er sich nicht, und es verdross den Kajin sehr, und es sank sein Antlitz.«

Es mag ungerecht erscheinen, dass der »Urheber« der Idee (Kajin) leer ausgeht, während sich Gott demjenigen zuwendet, der scheinbar nachahmt (Hewel). Aber ist das wirklich ungerecht? Um eine Antwort darauf zu finden, ist es notwendig, auf die genauen Opfergaben von Kajin und Hewel zu schauen.

Kajin bringt »von der Frucht des Bodens ein Opfer«. Zunächst einmal erscheint dies logisch, schließlich war Kajin Ackerbauer. Jedoch erscheint die genaue Auswahl der Früchte unklar, sie wird nicht genannt. Hatte Kajin sich überhaupt vorher Gedanken gemacht, welche Früchte er nehmen sollte, oder hat er die erstbesten, die er sah, dargebracht? Im berühmten Kommentar von Raschi (1040–1105) fällt die Antwort darauf eindeutig aus: »Von derjenigen (Frucht), die ihm zuerst in die Hand kam, nicht von der guten und ausgewählten.«

geschenk Es ist vergleichbar mit einem Geschenk, das möglichst schnell beschafft und günstig sein soll. Es mag bei demjenigen, der es erhält, nicht die ganz große Freude auslösen, obwohl es vom Ansatz her gut gemeint ist. Ganz anders sieht es bei Hewel aus, der »von den Erstlingen seiner Schafe, und zwar von den fetten« darbringt.

Er suchte nach dem Kostbarsten seiner Herde. Erstlinge und Fett spielen in den späteren Opfergaben der Israeliten eine wichtige Rolle. So betrachtet, verwundert es nicht, dass sich Gott Hewels Opfern zuwendet.

Es geht nicht darum, den Urheber einer Idee zu belohnen oder zu würdigen, sondern Gott schaut auf die Gaben. Dennoch entgeht es Gott nicht, dass Kajin traurig darüber ist, dass seine Opfer nicht angenommen worden sind. »Es verdross den Kajin sehr, und es sank sein Antlitz. Da sprach der Ewige zu Kajin: Warum verdrießt es dich, und warum sinkt dein Antlitz? Ist dem nicht so? Du bringst eine schöne Gabe, oder du bringst sie nicht; vor der Tür lagert die Sünde, und nach dir ist ihr Verlangen.«

BÖSER TRIEB Es ist die Willensfreiheit, die in diesen Versen durchkommt. Unsere Taten liegen in unserer Verantwortung. Unsere Reaktion auf enttäuschende Ereignisse liegt in unseren Händen. Raschi beschreibt es als den »bösen Trieb, der immer begehrt und danach gelüstet, dich zum Straucheln zu bringen«.

Zu straucheln wäre in diesem Zusammenhang, nicht nur dem bösen Trieb nachzugeben, sondern auch, ihn gar nicht als solchen wahrzunehmen, zu erkennen. Zu meinen, dass das eigene Handeln gerechtfertigt sei. Denn ist Kajin wirklich zuzutrauen, dass er seinen Bruder so sehr hasste, dass er schon länger seinen Tod herbeiführen wollte? Jener Kajin, der zuvor noch Opfer für Gott dargebracht hat, der Gott gesucht hat? Über Konflikte zwischen Kajin und Hewel berichtet die Tora jedenfalls nichts. Im Gegenteil: Hewel wäre seinem Bruder wahrscheinlich nicht aufs Feld gefolgt, wenn es nicht ein gewisses Vertrauensverhältnis gegeben hätte.

Auf dem Feld erreicht die Geschichte ihren traurigen Höhepunkt: »Und es sprach Kajin zu Hewel, seinem Bruder. Es geschah, wie sie waren auf dem Felde, da machte sich Kajin an seinen Bruder Hewel und erschlug ihn.«

Ein Midrasch berichtet über die Unterhaltung, die Kajin und Hewel zuvor geführt haben sollen. So soll Hewel, angesprochen auf den Umstand, dass nur seine Opfer von Gott angenommen worden sind, geantwortet haben: »Die Früchte meiner Werke waren besser als deine.« Kajin antwortete: »Es gibt kein Gericht, keinen Richter, keinen Lohn, keine Strafe.«
Während Hewel hier nicht besonders einfühlsam antwortet, fast arrogant erscheint, bereitet Kajin den Mord bereits gedanklich vor.

MORD Es ist der erste Mord der Menschheitsgeschichte. »Wo ist dein Bruder Hewel?« Das sind die, wie Raschi schreibt, »sanften Worte«, die Gott wählt, um den Mörder Kajin anzusprechen. Weil Kajin lügt und unfreundlich antwortet (»Ich weiß es nicht, bin ich der Hüter meines Bruders?«), spricht Gott im Anschluss weniger sanfte Worte: »Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit vom Boden zu mir auf!«

Rabbiner Joseph Herman Hertz (1872–1946) bemerkt, dass »Blut« im Plural steht – für ihn ein Hinweis darauf, dass Kajin nicht nur Hewel, sondern sämtliche ungeborenen Nachkommen ermordet hat.

Da Gott allwissend ist, hätte er Kajin eigentlich gar nicht befragen müssen. Indem er es doch tat, wollte Gott Kajin die Möglichkeit geben, seine Tat zu bereuen, sich von ihr abzuwenden. Das ist jedoch nicht der Fall.

Der Mord ist ein tragischer Ausdruck für unzählige grausame Ereignisse, die dieser Geschichte gefolgt sind. Unerfüllte Bedürfnisse, Enttäuschung, Unverständnis – all das findet sich in der Geschichte von Kajin und Hewel. Sie mahnt uns jedes Jahr aufs Neue, unsere eigenen Gefühle und Empfindungen nicht zu unterschätzen. Vor allem mahnt sie uns, auf unsere Taten zu achten. Denn dafür sind allein wir verantwortlich.

Der Autor ist Landesrabbiner von Thüringen und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Mose 1,1 – 6,8

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