Rabbiner Gabor Lengyel

Komplizierte Erinnerung

Rabbiner Gabor Lengyel Foto: imago

Was ist jüdisches Gedenken? Der verstorbene große jüdische Historiker Yosef Chaim Yeruschalmi schrieb ein Werk, welches ich für eine Pflichtlektüre für jeden jüdischen Historiker halte - sein Titel: »Zachor: erinnere dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis«. Bedeutend in ihm ist nicht zuletzt die Erkenntnis, dass jüdische Erinnerungskultur sich in der Liturgie und im Gebet manifestiere.

Was geschieht seit vielen Jahren am 9. November und am 27. Januar in Deutschland? Diese Gedenktage sind nicht-jüdische Erinnerungstage.

Institutionen Mir geht es um die öffentlichen, von Politik und Kirchen organisierten Gedenkfeiern, nicht um die Gedenkstunden der Jüdischen Gemeinden oder in jüdischen Institutionen in Deutschland.

Ein guter Freund von mir, evangelischer Pastor, der sich seit vielen Jahrzehnten für Juden und Israel einsetzt, äußerte einmal Kritik an diesen Veranstaltungen:

»Ein Problem gegenwärtiger Gedenkveranstaltungen hat eine Veranstaltung während des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Köln 2007 deutlich gezeigt. Es tritt vor allem dann auf, wenn Juden und Christen gemeinsam der Schoa gedenken. Die Kölner Veranstaltung fand unter dem Motto der Gedichtzeile von Hilde Domin ‘Nimm Steine und baue mir ein Haus‘ statt. Es gab bewegende Musik; Textbeiträge des jüdischen Journalisten G. B. Ginzel – er erzählte von Interviews mit ehemaligen Kölnern und Kölnerinnen, ihren Erinnerungen an die Schulzeit, an den jüdischen Karneval; er erzählte von solchen Feiern nach 1945, bei denen auch die eintätowierten KZ-Nummer von Überlebenden an den fröhlich bewegten Armen zu sehen gewesen seien…

Am Ende der Veranstaltung gingen die meisten Menschen sichtlich bewegt und erschüttert nach Hause... Diese Veranstaltung ist typisch für viele andere: Juden tragen die Hauptlast des Erinnerns vor einem christlichen Publikum. Allzu oft lassen wir Juden für und mit uns gedenken. Das ist bewegend – aber was bewegen solche Veranstaltungen wirklich? Sind Kirche und Öffentlichkeit wirklich angerührt? Indem wir unsere Gedenkfeiern immer wieder mit der Einladung zur Erinnerung an die ‚Opfer und ihre Nachkommen‘ verbinden, bereiten wir eine Situation vor, in der wir mit unseren Traditionen nicht wirklich ‘ins Gericht‘ gehen können.«

Solche Kritiken teilen mit meinem Freund viele Politiker und Kirchenverantwortliche.

Für viele jüdische Funktionäre, Rabbinerinnen und Rabbiner, Kantorinnen und Kantoren und auch Schoa-Überlebende, die damals Kinder waren, ist es selbstverständlich eine große Ehre, vom Bundespräsidenten und vom Bundeskanzler, von Landesfürsten, Bischöfen und anderen hohen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeladen zu werden. Ihnen bedeutet das wohl viel, vor der Elite Deutschlands bzw. eines Bundeslandes, übertragen im Fernsehen und verbreitet in sozialen Medien, vor einem Millionenpublikum aufzutreten. Damit tun wir Juden aber gerade das, was mein Freund aus der Kirche kritisiert.

Trauerarbeit Ich teile seit vielen Jahren diese Meinung, deshalb habe ich viele Einladungen als Redner zum 9. November oder 27. Januar auch ausgeschlagen. Ich als überlebendes Kind im Budapester Ghetto arbeite ehrenamtlich seit vierzig Jahren im christlich-jüdischen Gespräch und reiche meine Hand vielen christlichen Freundinnen und Freunden. Ja, ich bin für gemeinsame Trauerarbeit und vor allen Dingen für gemeinsame Projekte für eine friedliche Zukunft. Trauer ist immer intim und individuell oder kollektiv bezogen. Nachfahren der Täter und der Opfer trauern unterschiedlich.

Aus meiner Sicht können all diese Aktivitäten alle bereitwilligen Jüdinnen und Juden gemeinsam mit den christlichen Freunden an 363 Tagen im Jahr tun. An den beiden Gedenktagen in Deutschland sollten wir willkommene Gäste sein, nicht aber Akteure.

Rabbiner Dr. Gábor Lengyel ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, Dozent an der Leibniz-Universität Hannover, ehemaliger israelischer Soldat und lebt in Hannover.

Meinung

Weitermachen oder die jüdische Resilienz

Verfolgung, Exil und Gewalt konnten es nicht brechen: Die Widerstandsfähigkeit des jüdischen Volkes prägt seine Geschichte bis heute

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Meinung

Unsere Antwort ist Leben!

Chanukka ist das beharrliche Bestehen darauf, dass Mord und Terror nicht das letzte Wort haben. Ein Kommentar zum Terroranschlag von Sydney

von Jan Feldmann  18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  18.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  17.12.2025

Meinung

Warum ich Sydney nicht verlassen werde

Der Terroranschlag von Bondi Beach wurde auch möglich, weil die Mehrheitsgesellschaft den Antisemitismus im Land ignoriert hat. Unsere Autorin sagt trotzdem: Ihre Heimat als Jüdin ist und bleibt Australien

von Amie Liebowitz  17.12.2025

Meinung

Die Empörung über Antisemitismus muss lauter werden

Der Anschlag von Sydney war in einem weltweiten Klima des Juden- und Israelhasses erwartbar. Nun ist es an der Zeit, endlich Haltung zu zeigen

von Claire Schaub-Moore  17.12.2025

Meinung

Der Stolz der australischen Juden ist ungebrochen

Der Terroranschlag von Sydney hat die jüdische Gemeinschaft des Landes erschüttert, aber resigniert oder verbittert ist sie nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung künftig mehr für ihren Schutz tut

von Daniel Botmann  16.12.2025

Meinung

Xavier Naidoos antisemitische Aussagen? Haken dran!

Der Mannheimer Sänger füllt wieder Konzertsäle. Seine Verschwörungserzählungen über Juden und holocaustrelativierenden Thesen scheinen kaum noch jemanden zu stören

von Ralf Fischer  15.12.2025