Schulanfang

Alefbet mit Honig

Auch eine süße Last bleibt eine Last.» Zu dieser Erkenntnis kam der sechsjährige Erich Kästner, als er im Herbst 1905 nach der ersten Unterrichtsstunde in der Bürgerschule in Dresden seine Schultüte nach Hause schleppte. Generationen von Schülern werden dieses Fazit, das Kästner gezogen hat, als er längst ein berühmter Schriftsteller war, gerne bestätigen, vor allem, wenn sie nicht nur an die Schultüte, sondern an die Schule überhaupt denken. «Meine Zuckertüte hättet ihr sehen müssen! Sie war bunt wie 100 Ansichtskarten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mir bis zur Nasenspitze!»

Zuckertüte Der Brauch der Schul- oder Zuckertüte ist inzwischen landauf, landab überall verbreitet. In Süddeutschland ist er vergleichsweise jung. Die ersten Zuckertüten sind in Thüringen und Sachsen zu Beginn des 19. Jahrhunderts belegt. Im Süden hat sich die Sitte erst im 20. Jahrhundert eingebürgert.

Bruno Stern hat es in der württembergischen Kleinstadt Niederstetten so erlebt: «Mit sechs Jahren, wie es so üblich war, kam ich in die jüdische Volksschule. Meist erhielt der Schulneuling am ersten Schultag vom Lehrer eine Tüte mit Süßigkeiten, welche die Eltern am Tag zuvor in die Schule gebracht hatten. 1918, als ich in die Schule kam, gab es keine Tüte. Es war im letzten Kriegsjahr, und an allem herrschte Mangel» (Meine Jugenderinnerungen an eine württembergische Kleinstadt und ihre jüdische Gemeinde, Stuttgart 1968).

brauch Wie es zu den süßen Leckereien am Schulbeginn gekommen ist, ist nicht endgültig geklärt. Manche vermuten, dass ein jüdisches Ritual die Quelle des Brauches sein könnte. Dies scheint eher unwahrscheinlich. Aber wie dem auch sei, jüdischen Kindern den Einstieg in den Schulalltag zu versüßen, hat eine lange Tradition.

Der jüdisch-amerikanische Historiker Ivan Marcus beschreibt in seiner eindrucksvollen Darstellung von Kindheitsritualen im Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Rituals of Childhood. Jewish Culture and Acculturation in the Middle Ages), wie Kinder in diesen harten und kalten Zeiten mit der Schrift in Verbindung kamen, wie ein fünf- oder sechsjähriger Junge in der jüdischen Schule, im Haus des Lehrers, im Cheder in die Tora eingeführt wurde.

«Der Lehrer liest die Buchstaben. (…) Er beträufelt die Buchstaben auf der kleinen Schiefertafel des Schülers mit Honig, damit das Kind die Süße der Buchstaben schmecken kann. Danach werden Kuchen in Form von Buchstaben hineingebracht, aus Mehl, Honig, Öl und Milch gebacken.»

In Erinnerung an den Psalm 119 ahmt das Kind das Lesen der Buchstaben nach und isst dann den Kuchen. «Dein Wort ist in meinem Mund süßer als Honig» (119,103). Die bitteren Mühen des Lernens waren am Anfang also verbunden mit den Wonnen des süßen Geschmacks auf der Zunge.

Chassidismus Das Gleichnis vom Bitteren, gepaart mit dem Süßen, hat im Chassidismus weite Verbreitung gefunden. Dem Gründer dieser Bewegung des osteuropäischen Judentums, dem Baal Schem Tow (1700–1760), wird folgender Spruch zugeschrieben: «Es gibt Ärzte, die sehr bittere Arzneien verabreichen. Aber ein besserer Arzt gibt eine süße Pille, denn diese nimmt man gerne ein.»

Selbstverständlich ist die Sitte, das Lernen zu versüßen, auch im mittelalterlichen Deutschland unter den Juden anzutreffen. Der Rokeach, Rabbi Eleasar ben Jehuda (1165–1238), schreibt: «Am Morgen von Schawuot führt der Vater das Kind in die Synagoge. Man bringt eine Tafel mit dem Alefbet. Die Buchstaben sind mit Honig bestrichen, die das Kind kosten darf.

Dann bringt man einen Lebkuchen, auf dem als Verzierung der vierte Vers des 50. Kapitels des Buches Jesaja geschrieben steht: ›G’tt, der Herr, gebe mir eine gelehrige Zunge, damit ich die Müden stärken kann durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt Er mein Ohr, damit ich auf Ihn höre wie ein Schüler.‹»

Nicht nur der gelehrte Chronist bewahrte diese Sitte aus Deutschland. Im Machsor Lipsius, einem prächtigen Pergamentcodex aus dem 14. Jahrhundert, befindet sich diese Szene als Illustration.

Russischbrot Von den zitierten Werken führt ein langer Weg in die heutige Zeit, in der sich vor allem die Lebensmittelindustrie dieser Sitte angenommen hat, über sie wacht, sie pflegt und natürlich an ihr verdient.

Ob das nun das sogenannte Russischbrot ist oder die Buchstabennudeln, die in der Suppe schwimmen – sie geben den Speisen, wenn man so will, einen «lehrreichen Geschmack». Und wenn die Abc-Schützen von heute ihre Schultüte, jenes Füllhorn des Glücks, im Arm halten, dann strahlen sie vor Freude.

Der Autor war bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025

Schoftim

Recht sprechen

Eine Gesellschaft hat nur dann eine Zukunft, wenn sie sich an ihrer moralischen Gesetzgebung orientiert

von Rabbiner Avraham Radbil  29.08.2025

Talmudisches

Der heimliche Verbrecher

Über Menschen, die nicht aus Wahrheit, sondern aus Selbstdarstellung handeln

von Vyacheslav Dobrovych  29.08.2025

Kiddusch Haschem

»Ich wurde als Jude geboren. Ich werde als Jude sterben«

Yarden Bibas weigerte sich gegenüber den Terroristen, seinen Glauben abzulegen. Wie viele vor ihm lehnte er eine Konversion ab, auch wenn ihn dies beinahe das Leben gekostet hätte

von Rabbiner Dovid Gernetz  28.08.2025

Israel

Rabbiner verhindert Anschlag auf Generalstaatsanwältin

Ein Mann hatte den früheren Oberrabbiner Jitzchak Josef um dessen religiöse Zustimmung zur »Tötung eines Aggressors« ersucht. Die Hintergründe

 26.08.2025 Aktualisiert