Ghetto-arbeit

Endlich Rente

Ghettoarbeit: Tischlerwerkstatt in Lodz während des Zweiten Weltkriegs Foto: dpa

Sara Cemachovic war gerade 13 Jahre alt, als die Deutschen Litauen besetzten und die Juden in Ghettos steckten. »Damals«, sagt Sara Cemachovic, die heute 84-jährig in Brüssel lebt, »sind meine Kindheit und meine Jugend verloren gegangen.« Ihre Familie wurde von den Nazis ermordet, und für sie begann eine Odyssee durch Ghettos und Lager: Neun Monate blieb das Mädchen im Ghetto Smarhon, musste deutsche Soldaten bekochen, die ein Kriegsgefangenenlager bewachten. Danach kam sie in das Konzentrationslager Riga, später nach Stutthof, wo sie 1945 befreit wurde.

Nach dem Krieg heiratete Cemachovic, gründete eine Familie. Sie lebte in der damaligen Sowjetunion und zog erst Anfang der 70er-Jahre nach Belgien. Heute bezieht die Witwe eine kleine Rente von 650 Euro – dazu kommen noch einmal 250 Euro für die Zeit, in der sie im Ghetto Smarhon gearbeitet hat.

neuregelung Nach einem Gesetz der rot-grünen Koalition stehen ehemaligen Ghetto-Arbeitern zwar seit 1997 Rentenzahlungen zu. Um den vollen Betrag zu erhalten, der ab 1. Juli 1997 fällig gewesen wäre, mussten die Anträge aber bis zum 30. Juni 2003 gestellt werden. Die deutsche Rentenversicherung lehnte jedoch über 90 Prozent der Anträge ab. Diese Praxis wurde erst 2009 vom Bundessozialgericht unterbunden. Die Rentenversicherung zahlte daraufhin mehr Renten aus – allerdings nicht ab 1997, sondern erst ab 2005, weil laut Sozialrecht nur eine Rückwirkung von maximal vier Jahren erlaubt ist.

Nach neuen Plänen von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) können Ghetto-Rentner wie Sara Cemachovic für die Jahre 1997 bis 2001 mit einer Nachzahlung rechnen. Für viele andere kommt die Neuregelung jedoch zu spät: »1500 unserer Mandanten wären von den Plänen der neuen Bundesregierung theoretisch betroffen. Im Moment schreiben wir sie alle an, aber wir schätzen, dass fast jeder Dritte nicht mehr lebt«, sagt der Düsseldorfer Anwalt Frank-Ludwig Thiel, dessen Kanzlei viele anspruchsberechtigte ehemalige Ghetto-Arbeiter vertritt. »Was jetzt passiert, kommt auf den letzten Drücker.« Viel Zeit sei verschwendet worden: »Die Rentenversicherungsträger haben gemauert, und auch auf politischer Ebene wurde nichts erreicht. Erst durch das Bundessozialgericht 2009 kam es zu einer Änderung der Lage. Aber die letzte Bundesregierung hat jede Einigung abgelehnt.« Frühere Ghetto-Arbeiter, die in Osteuropa oder der Sowjetunion gelebt haben, hätten keine Chance auf Rentenzahlungen gehabt.

koalition In ihrem Koalitionsvertrag hatte sich die Bundesregierung zur »historischen Verantwortung für die Überlebenden des Holocaust« bekannt und eine »angemessene Entschädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit« in Aussicht gestellt. Anders als Zwangs- war Ghetto-Arbeit jedoch eine bezahlte Tätigkeit, für die meist auch Rentenbeiträge abgeführt wurden. Also geht es den früheren Ghetto-Arbeitern und den Opferverbänden nicht um »Entschädigung«, sondern um berechtigte Ansprüche an die deutsche Rentenversicherung.

Schon vergangene Woche hatte das Nahles-Ministerium der Jüdischen Allgemeinen bestätigt, dass man »mit Hochdruck« an einer Lösung arbeitet. Nun wurde ein Eckpunktepapier aus dem Arbeitsministerium bekannt. Darin heißt es, bislang seien 50.700 ehemaligen Ghetto-Arbeitern Renten bewilligt worden, allerdings erhielten etwa 38.000 Überlebende weniger Rente, als ihnen – ohne die umstrittene Vier-Jahres-Rückzahlregelung – zugestanden hätte. Es leben allerdings mittlerweile nur noch etwa 20.000 Rentenberechtigte, 13.000 von ihnen in Israel.

Die Vierjahresregelung soll nun abgeschafft werden. Zudem sollen die bereits ausgezahlten Altersgelder »zum frühestmöglichen Rentenbeginn 1. Juli 1997 neu berechnet und gezahlt« werden. Das bedeutet für die allesamt hochbetagten Menschen zwar eine niedrigere Monatsrechnung, aber zunächst eine deutliche Nachzahlung. Im Falle von Sara Cemachovic macht das 7494 Euro, die die alte Dame sehr gut gebrauchen kann.

Bundestag Das neue Gesetz soll bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen in der kommenden Woche vorgestellt und kurze Zeit danach im Bundestag verabschiedet werden. Vorbehalte, die aus Reihen der Union, etwa vom Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, gemeldet wurden, sollen mittlerweile ausgeräumt sein. »Selbstverständlich wird die CDU/CSU-Fraktion dies mittragen«, zitiert die »Welt« die stellvertretende Fraktionschefin Sabine Weiss zu Nahles’ Plänen.

Unabhängig von Nahles’ Initiative bei den Ghetto-Renten wurden Pläne von Finanzminister Wolfgang Schäuble bekannt, im Jahr 2015 die Mittel zur Pflege jüdischer Holocaust-Überlebender um 50 Prozent auf 200 Millionen Euro aufzustocken, meldete die »Wirtschaftswoche«.

Bulletin

Terrorangriff in Sydney: 20 Verletzte weiter im Krankenhaus

Fünf Patienten befinden sich nach Angaben der Gesundheitsbehörden in kritischem Zustand

 17.12.2025

Bondi Beach

Sydney-Attentäter wegen 15-fachen Mordes angeklagt

15-facher Mord, Terrorismus, Sprengstoffeinsatz - dem überlebenden Sydney-Attentäter werden 59 Tatbestände zur Last gelegt

 17.12.2025

Meinung

Die Empörung über Antisemitismus muss lauter werden

Der Anschlag von Sydney war in einem weltweiten Klima des Juden- und Israelhasses erwartbar. Nun ist es an der Zeit, endlich Haltung zu zeigen

von Claire Schaub-Moore  17.12.2025

Washington D.C.

Trump ruft zu Vorgehen gegen islamistischen Terror auf

Bei einer Chanukka-Feier im Weißen Haus spricht der Präsident den Hinterbliebenen der Opfer vom Anschlag in Sydney sei Beileid aus

 17.12.2025

Washington D.C.

USA verhängen Einreisestopp für Inhaber palästinensischer Dokumente

Zur Begründung heißt es, in den palästinensischen Gebieten seien mehrere von den USA als Terrororganisationen eingestufte Gruppen aktiv, die auch US-Bürger getötet hätten

 17.12.2025

Interview

»Die Genozid-Rhetorik hat eine unglaubliche Sprengkraft«

Der Terrorismusforscher Peter Neumann über die Bedrohungslage für Juden nach dem Massaker von Sydney und die potenziellen Auswirkungen extremer Israel-Kritik

von Michael Thaidigsmann  16.12.2025

Wirtschaft

Hightech-Land Israel: Reiche sieht Potenzial für Kooperation

Deutschland hat eine starke Industrie, Israel viele junge Start-ups. Wie lassen sich beide Seiten noch besser zusammenbringen? Darum geht es bei der Reise der Bundeswirtschaftsministerin

 16.12.2025

Meinung

Der Stolz der australischen Juden ist ungebrochen

Der Terroranschlag von Sydney hat die jüdische Gemeinschaft des Landes erschüttert, aber resigniert oder verbittert ist sie nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung künftig mehr für ihren Schutz tut

von Daniel Botmann  16.12.2025

IS-Gruppen

Attentäter von Sydney sollen auf den Philippinen trainiert worden sein

Die Hintergründe

 16.12.2025