Lea Streisand

»Sind hier Antisimitisten?«

Lea Streisand Foto: Stephan Pramme

Lea Streisand

»Sind hier Antisimitisten?«

Unsere Autorin ist schockiert über Anfeindungen, wenn sie auf der Bühne offen über Judenhass spricht

von Lea Streisand  11.01.2024 09:33 Uhr

Seit 20 Jahren mache ich Bühnenliteratur. Im echten Leben bin ich oft orientierungslos, voller Schuldgefühle. Ich kann an keinem Briefkasten vorbeigehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Bestimmt habe ich vergessen, irgendwelche Post einzuwerfen.

Die Bühne dagegen ist mein Revier. Nichts ist peinlich. Es ist nur Theater. Ich schreibe immer bis kurz vor dem Auftritt. Gerade jetzt, da meine Welt kopfsteht und ich seit drei Monaten Nachhilfeunterricht in Realität nehme.

Ich lese und schreibe ununterbrochen, und wenn ich nicht schreibe, denke ich trotzdem weiter und esse zu wenig und schlafe zu wenig und versuche zu verstehen, verstehen, verstehen, was mit mir, mit der Welt passiert ist. Und dann lese ich das neu Geschriebene auf der Bühne vor, und die Zuschauer sind berührt oder beschämt, lachen oder weinen, aber nie hätte ich geglaubt, dass man für das Sprechen über Antisemitismus Anfeindungen erntet.

Also im Internet, ja. Aber im Theater? »Schwachsinn!«, so wurde gerufen, es gab genervtes Stöhnen und Buhrufe für Sätze wie: »Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine seit 2000 Jahren andauernde Aneinanderreihung von Demütigung, Vertreibung und Mord, die schließlich im Zivilisationsbruch Auschwitz mündete.« Geschichtswissenschaftlicher Standard, der kleinste gemeinsame Nenner, dachte ich. Doch weit gefehlt.

Der Konsens, dem – und dafür schäme ich mich am meisten – auch ich mich bis zum 7. Oktober unterzuordnen versuchte, lautet für die meisten Menschen nach wie vor: Der Antisemitismus war eine Erfindung von Adolf Hitler, und mit ihm ist er gestorben. Ich habe meine Angst vor antisemitischer Verfolgung immer als vererbtes Privatproblem verstanden, das nichts mit der Realität zu tun hat und gegen das ich einfach noch ein paar Therapiestunden mehr machen müsse, dann löst sich das alles auf.

Der Motor meines Schreibens ist das Verstehen. Und die Notwendigkeit, mich verständlich zu machen.

Nun gab es ein Gespräch mit den Veranstaltern. Einer versicherte, es tue allen leid, er habe auch gleich im Team herumgefragt: »Sind hier Antisimitisten?« Hat sich keiner gemeldet. Ein anderer äußerte sich empört über meine »Unterstellung, wir würden sowas denken«, die restlichen Anwesenden waren sich plötzlich nicht mehr sicher, wo sie an dem Abend waren und was sie genau gehört hatten.

Auf meine Bitte, in Zukunft bei Anfeindungen einzugreifen, damit ich nicht allein dastehe, wurde zuerst eingegangen. Später erreichte mich jedoch eine Mail von einem Mitarbeiter, er persönlich könne das leider nicht leisten, den aktiven Widerstand, das müsse ich auch verstehen. Aber sie stünden alle voll hinter mir und fänden ganz toll, was ich mache.

Ich kann in solchen Gesprächen nichts erwidern. Ich weiche zurück vor der schieren Wand des Unwissens, der Naivität, der Nichtreflektiertheit und Ignoranz. Ich diskutiere nicht mehr. Weil es nichts bringt. Niemand lässt sich von irgendwas überzeugen. Auseinandersetzung mit Diskriminierung bedeutet immer, Eigenverantwortung zu übernehmen. Es bedeutet, die eigene Normalität, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Zu akzeptieren, dass es Aspekte des eigenen Denkens und Handelns gibt, die weiter reichen als der eigene Wille und für die man am Ende trotzdem Verantwortung übernehmen muss.

Der Motor meines Schreibens ist das Verstehen. Und die Notwendigkeit, mich verständlich zu machen. Ich habe eine Gehbehinderung, ein Transgenerations­trauma, und ich hatte mal Krebs. Ich bin – wie alle Juden und Jüdinnen weltweit – auf Unterstützung angewiesen. Aber krieg das mal in diese Betonköppe rein.

Die Autorin ist Schriftstellerin und Kolumnistin bei radioeins des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB).

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