Meinung

Javier Milei untergräbt den Kampf gegen Antisemitismus

Der argentinische Präsident Javier Milei an der Klagemauer in Jerusalem Foto: copyright (c) Flash90 2024

Als ich 2019 Buenos Aires besuchte, war das Leben vor Ort bereits enorm durch die hohe Inflation belastet. Veranstaltet wurde die Reise durch JDC Entwine und JQ International. Ihr Ziel war es, einen Einblick in die gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu vermitteln, die das südamerikanische Land nicht nur von seinen Nachbarn unterscheiden: Argentinien war 2019 nicht nur Vorreiter hinsichtlich des Ausbaus von LGBTIQ+-Rechten, man hatte es sich auch zum Ziel gemacht, Antisemitismus entschieden zu bekämpfen. In Argentinien befindet sich die sechstgrößte jüdische Gemeinschaft der Welt.

Bündnisse haben den Kampf gegen Antisemitismus und Queerfeindlichkeit aufgenommen. Wir trafen uns mit binären und nicht-binären Aktivistinnen und Aktivisten, die gegen Transfeindlichkeit kämpften. Wir nahmen am CSD teil und tauschten uns mit queeren Organisationen aus. Und wir besuchten einige jüdische Einrichtungen wie AMIA, die Asociación Mutual Israelita Argentina. Dabei handelt es sich um eine Wohltätigkeitsorganisation der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien, auf die 1994 ein Anschlag durch die Hisbollah verübt wurde. Ebenfalls gehört ein Besuch in den Räumen von DAIA, der Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas, dem Dachverband der jüdischen Communities, zum Programm. Dort lernten wir, dass es in den vergangenen Jahren zwar einige Fortschritte beim Kampf gegen Diskriminierung gegeben hatte, doch dass diese auf tönernen Füßen standen.

Mileis Kampf gegen Abtreibung und LGBTQ+

An diese Einschätzung musste ich in den letzten Tagen sehr häufig denken. Denn Javier Milei, der am 10. Dezember 2023 als neuer Präsident vereidigt wurde, will die Fortschritte, die in den vergangenen Jahren erreicht wurden, zurückdrehen. Dazu gehört seine Ankündigung, das Recht auf Abtreibung abzuschaffen und die Gesetzgebung in diesem Bereich auf das Jahr 1921 zurückkatapultieren. Auch die queeren Communities fürchten sich. Die Federación Argentina LGBT erklärte, dass Milei und seine Partei durch »Hassreden, Diskriminierung und Gewalt« die queere Community bedrohten.

Auch wenn Milei Homosexualität nicht mehr wie früher als Krankheit bezeichnet, versprach er seiner Anhängerschaft die angeblichen »Privilegien« der queeren Community abschaffen zu wollen, was einen herben Schlag für die Errungenschaften bedeuten dürfte. Hinzu kommt, dass Parteimitglieder Mileis immer wieder offene Gewalt gegen queere Menschen legitimieren.

Amtshandlungen sägen am Fundament des Kampfes gegen Antisemitismus

Jüdinnen und Juden äußerten sich unterschiedlich zum neuen Präsidenten: Manche wiesen darauf hin, dass er sich zwar als Katholik sehe, aber die Tora studiere und mit einem Übertritt zum Judentum liebäugele. Außerdem hätte er doch als Ziel seiner ersten Auslandsreise Israel gewählt, dort einen emotionalen Auftritt an der Kotel hingelegt, in Yad Vashem »Nie wieder ist jetzt« gesagt und angekündigt, die Botschaft nach Jerusalem verlegen zu wollen.

Andere hingegen kritisierten scharf, dass Milei Verschwörungserzählungen anhänge, etwa dem von der Alt-Right verbreiteten Kampfbegriff des »Kulturmarxismus« sowie dass manche seiner Aussagen als strukturell-antisemitisch gewertet werden könnten, beispielsweise wenn er von »nutzlosen, parasitären Politikern« spreche, »die nie gearbeitet« hätten.

Während sich Milei als großer Freund Israels inszeniert, sägen seine ersten Amtshandlungen am Fundament des Kampfes gegen Antisemitismus und damit dem Schutz von Jüdinnen und Juden. So gab er die Anweisung, das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI) und das Frauenministerium abzuschaffen. Das Antidiskriminierungsbüro INADI wurde 1995 per Gesetz geschaffen. Von Mileis Regierungssprecher, Manuel Adorni, war zu vernehmen, dass Institutionen geschlossen und aufgelöst würden, »die nicht nützlich sind, die die Politik kassieren oder die einfach nur dazu dienen, politisch militante Arbeitsplätze zu schaffen«. INADI sei nur der Anfang.

Diese Entscheidung wurde von DAIA scharf kritisiert. In einem Statement auf X (ehemals Twitter) wies der Dachverband darauf hin, dass sich »DAIA zusammen mit anderen Organisationen vor fast drei Jahrzehnten [für] die Gründung von INADI« eingesetzt habe. INADI jetzt zu schließen, sei ein Verstoß »gegen den Schutz des Rechts auf Gleichheit und friedliche Koexistenz in unserer Gesellschaft«. Angesichts der Probleme, die von Antisemitismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit betroffene Menschen auch in Argentinien ausgesetzt sind und der weltweit gestiegenen antisemitischen Bedrohungslage ist diese Entscheidung ein schwerer Schlag.

Nationalisten können nicht gegen Antisemitismus sein

Wieder einmal zeigt sich, dass Theodor W. Adorno recht behalten würde. Er konnte die aktuelle Entwicklung des »Trugbild-Zionismus« zwar nicht vorhersehen. Doch hatte er bereits in dem kürzlich von Suhrkamp neu aufgelegten, aber bereits im Jahr 1962 gehaltenen Vortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« betont: »Wirksame Abwehr des Antisemitismus ist von einer wirksamen des Nationalismus in jeglicher Gestalt untrennbar. Man kann nicht auf der einen Seite gegen Antisemitismus, auf der anderen ein militanter Nationalist sein.«

Die vergiftete Solidarität rechtspopulistischer, neu- und extrem rechter Politiker und Politikerinnen mit Israel ist ein Feigenblatt. Sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese die Axt an den Kampf gegen Antisemitismus anlegen. Uns sollte das in Europa ebenso zu denken geben: Die Bedrohung durch die extreme Rechte, durch Verschwörungsideologien und Antisemitismus ist global. Oft gehen sie Hand in Hand mit Rassismus und Queerfeindlichkeit. Wer jetzt an der Förderung demokratischer Bildungsarbeit spart, bringt die Grundfesten unserer Gesellschaft in Gefahr.

Der Autor ist Publizist und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Marlene Schönberger (Grüne).

Tobias Kühn

Wenn Versöhnung zur Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Meinung

Alles muss ans Licht

Eine unabhängige Untersuchungskommission über die Terroranschläge des 7. Oktober ist ein Akt von Pikuach Nefesch

von Sabine Brandes  21.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Kommentar

Danke, Berlin!

Die Entscheidung der Behörden, einem Hamas-Fanboy die Staatsbürgerschaft zu entziehen, sendet ein unmissverständliches und notwendiges Signal an alle Israelhasser. Mit Mahnwachen allein können wir die Demokratie nicht verteidigen

von Imanuel Marcus  19.11.2025

Meinung

Die Schönwetterfreunde Israels sind zurück! 

Die Wiederaufnahme der Waffenexporte ist richtig und notwendig. Doch das ändert nichts daran, dass die Bundesregierung das Vertrauen Israels und vieler Juden vorerst verloren hat

von Sarah Cohen-Fantl  18.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Mit Martin Hikel geht einer, der Tacheles redet

Der Neuköllner Bürgermeister will nicht erneut antreten, nachdem ihm die Parteilinke die Unterstützung entzogen hat. Eine fatale Nachricht für alle, die sich gegen Islamismus und Antisemitismus im Bezirk einsetzen

von Joshua Schultheis  16.11.2025

Meinung

Die Ukrainer brauchen unsere Hilfe

Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten in Deutschland nimmt ab. Aus einer jüdischen Perspektive bleibt es jedoch wichtig, auch weiterhin nicht von ihrer Seite abzuweichen

von Rabbinerin Rebecca Blady  16.11.2025

Meinung

Israel: Keine Demokratie ohne Pressefreiheit

Den Armeesender abschalten? Warum auch jüdische Journalisten in der Diaspora gegen den Plan von Verteidigungsminister Katz protestieren sollten

von Ayala Goldmann  14.11.2025