Literatur

Wer ist hier der Boss?

Jüdischer Junge im Westjordanland schwenkt die Flagge vor zwei Palästinensern. Foto: Flash 90

Die fortdauernde Besatzung, die Förderung des religiösen Extremismus, die Untergrabung von Recht und Gesetz durch die Regierung selbst, all das bedroht die Zukunft Israels», so lautet Gershom Gorenbergs wenig optimistische Zustandsbeschreibung des jüdischen Staates. Religiöse Siedler, deren Zahl und Einfluss kontinuierlich wächst, und ihr messianisches Gedankengut stellen eine ernste Gefahr für die Existenz als demokratisches Gemeinwesen dar, so seine These. Was folgt, ist eine nach eigenen Worten «selektive und persönliche Reise durch Israels Vergangenheit und Gegenwart», um zu zeigen, welche Faktoren dieser Entwicklung Vorschub geleistet haben.

Nun ist der Historiker und Journalist Gorenberg keiner der üblichen linken Intellektuellen, die Israel als Neuauflage des südafrikanischen Apartheidsystems bezeichnen oder den Zionismus zu einer rassistischen Ideologie umdeuten. Seine Stärken sind die Nuancen, und so zeichnet er ein differenziertes Bild, das die israelischen Bewohner des Westjordanlandes nicht pauschal als Horde durchgeknallter Fanatiker beschreibt. Präzise skizziert Gorenberg die historischen und gesellschaftlichen Prozesse, die eine Besiedlungsbewegung nach dem Sechstagekrieg erst möglich machten.

Zionismus Wie bereits in seinem früheren Buch The Accidental Empire gezeigt, waren es zu Beginn vor allem Politiker der Arbeiterpartei, die den Bau der ersten Siedlungen auf dem Golan und später im Westjordanland absegneten – allen voran Schimon Peres. Die alte Ideologie und Mentalität aus den Jahren vor der Staatsgründung verlagerte sich so in das Jahr 1967 und entfaltete eine schwer zu bändigende Dynamik. «Der Siedlungsbau war ein zionistischer Wert», so Gorenberg. «Nun gab es neues Land, das besiedelt werden konnte. Die Uhren waren zurückgestellt. Wie in den vorstaatlichen Tagen hatte die Sache Vorrang vor dem Gesetz.» Genau dieses will Gorenberg wiederhergestellt wissen.

Deshalb ist die Altalena-Affäre von 1948 ein wichtiger Bezugspunkt seiner Analysen. Damals hatte sich Israels Gründungsvater David Ben Gurion nicht davor gescheut, das Gewaltmonopol des Staates auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen und in Konsequenz die Altalena, ein Schiff mit Waffen und Kämpfern der revisionistischen Irgun, unter Feuer nehmen zu lassen. Es dürfe nur eine israelische Armee geben, die allein der Regierung unterstellt ist, lautete die Botschaft. Der Ära der oftmals autonom agierenden paramilitärischen Gruppierungen, die einer der politischen Fraktionen der jüdischen Gemeinschaft angehörten, sollte damit ein Ende gesetzt werden.

Gorenbergs Forderung lautet daher: Wie 1948 muss auch heute der Staat Israel die Initiative ergreifen, um sein Gewaltmonopol wiederherzustellen. Denn die Tatsache, dass eine nicht geringe Zahl von Armeeangehörigen in Siedlungen sozialisiert wurde, in denen Rabbiner die Heiligkeit des Landes zu einem Fetisch umgedeutet haben und wo weltliche Gesetze nur selektiv befolgt werden, sieht er als große Gefahr für die Loyalität gegenüber jeder gewählten politischen Führung. «Es ist absurd, dass mit der Armee zusammenarbeitende Institutionen Soldaten instruieren, die politische Agenda Großisraels über ihre Befehle zu stellen», so Gorenberg.

Leerstellen Dennoch hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck, und das liegt nicht allein an der völlig überflüssigen Anlehnung des deutschen Titels an den Bestseller von Thilo Sarazzin. Überhaupt meint es sein deutsches Lektorat angesichts zahlreicher Schlampereien und Fehlübersetzungen nicht gut mit ihm. Zum einen irritiert es, dass Palästinenser bei Gorenberg als Akteure überhaupt nicht in Erscheinung treten. Gerade der Bezug auf die Altalena-Affäre hätte es nahezu zwingend gemacht, darauf zu verweisen, dass eine bis zum heutigen Tag ausbleibende Durchsetzung staatlicher Autorität genau das Manko ist, an dem die palästinensische Autonomiebehörde aufgrund der Vielzahl oftmals rivalisierender Milizen seit ihrer Geburt krankt.

Zum anderen kann sich Gorenberg als orthodoxer Zionist trotz seines Unbehagens an der Ideologie der Siedlerbewegung nicht von religiösen Kategorien trennen. So wirft er jener zwar vor, mit ihrer Interpretation der Besiedlung des Landes als «Erlösung» im messianischen Sinne gewaltig auf dem Holzweg zu sein. Umgekehrt spricht Gorenberg in seinem Plädoyer für eine Neugründung des jüdischen Staates selbst von einer «Erlösung», die dann einsetzt, wenn bestimmte Voraussetzungen wie das Ende der Besatzung erfüllt sind.

So präzise die Beschreibungen der Verhältnisse in den besetzten Gebieten auch sind, wenn es um seine Vorstellungen für die Zukunft geht, wird es wenig konkret. Zudem sind Gorenbergs Forderungen nach einer Trennung von Staat und Rabbinat weder neu noch innovativ.

Gershom Gorenberg:
«Israel schafft sich ab». Aus dem Hebräischen von Andreas Simon dos Santos. Campus, Frankfurt/M. 2012, 316 S., 19,99 €

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