Nachruf

Wenn die wilden Kerle trauern

Maurice Sendak (1928–2012) Foto: ddp

Geboren wurde Maurice Sendak am 10. Juni 1928 – im selben Jahr wie Micky Maus, wie er gern betonte. Mit Disneys Comicstripfigur können Sendaks zeichnerische Kreationen es an Bekanntheit mittlerweile aufnehmen. Seine »wilden Kerle« aus dem bahnbrechenden Bilderbuch von 1963 gehören zum Lesekanon der meisten Kinder der westlichen Welt.

»Den mächtigsten Mann der USA« hat die New York Times ihn einmal genannt, weil er der »Fantasie von Millionen Kindern Gestalt« gegeben habe. Jetzt ist Maurice Sendak tot. Am Dienstag ist er 83-jährig einem Herzinfarkt erlegen.

schoa-monster Der kleine Maurice wuchs in Brooklyn mit anderen Geschichten auf, Erzählungen aus dem Ghetto. Sein Vater, der in New York als Schneider versuchte, über die Runden zu kommen, stammte aus einer polnischen Rabbinerfamilie. Später kamen Tanten und Onkel dazu, denen der Schrecken von Auschwitz, Theresienstadt oder Dachau noch in den Kleidern hing. Mit ihrem lauten Jiddisch und dem schrecklichen Akzent brachen sie von heute auf morgen in Maurices Leben ein, aßen alles auf, bevölkerten die ohnehin enge Wohnung.

Sie fielen über ihn her, wilde Kerle, die ihn packten, küssten und bissen, und er hasste sie dafür. Maurice Sendaks Jugend fand im Schatten der Schoa statt. Wie sollte er da sein Recht auf Unversehrtheit einfordern, wie sich von den mächtigen Geistern nicht erdrücken lassen? Max aus den »wilden Kerlen« schafft das und noch mehr. Er macht sich die Ungeheuer hörig. Maurice Sendak nannte Wo die wilden Kerle wohnen ein »sehr jüdisches Buch«.

Der kleine Maurice war ein kränkliches, oft bettlägeriges Kind, behütet von seiner Mutter mit ihrem breiten, runden Gesicht. Als gütigen Mond hat er es in vielen seiner Bücher verewigt. Mit sechs Jahren zeichnete Sendak zusammen mit dem älteren Bruder sein erstes Bilderbuch. Etwas anderes als Buchillustrator wollte er nie werden.

Er ließ sich darin nie beirren, auch nicht, als man seinen Zeichnungen zunächst entgegenhielt, sie seien in ihrem Strich zu »europäisch«. Sendak blieb bei seinem Stil, bis er eine Lektorin fand, Ursula Nordstroem von Harper & Collins, die das Wagnis einging, ihn zu publizieren. Die wilden Kerle wurden ein Welterfolg, der die Bilderbuchliteratur revolutionierte und anderen rebellischen Kinderbuchhelden den Weg ebnete.

mutmacher Viele Auszeichnungen bekam Maurice Sendak für seine mehr als 80 Bücher. Die kurz gewachsenen Mädchen und Buben in ihnen, ob in der Nachtküche oder in seinem letzten Buch Brundibar 2002, scheinen mit ihren zu knappen oder zu weiten Kleidern noch immer dem Brooklyn der 30er- und 40er-Jahre entlaufen zu sein. Unerschrocken bieten sie den kleinen Betrachtern bis heute Hilfe an, ihr junges Leben zu meistern, nicht unterzugehen.

Dass ihnen das in manchmal erschreckender Umgebung gelingt, gerade das macht den Reiz und das Geheimnis dieser Bücher aus. Das und noch etwas anderes: Maurice Sendak nahm sein Publikum immer für voll. »Ich schreibe keine Bücher für Kinder«, hat er einmal gesagt. Seine jungen Leser wussten das zu schätzen.

Literatur

John Irvings »Königin Esther«: Mythos oder Mensch?

Eigentlich wollte er keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus

von Taylan Gökalp  18.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  17.11.2025

TV-Tipp

»Unser jüdischer James Bond«

Die Arte-Doku »Der Jahrhundert-Spion« erzählt die schillernde Lebensgeschichte des Ex-CIA-Agenten Peter Sichel, der seinerzeit den Ausbruch des Kalten Kriegs beschleunigte

von Manfred Riepe  17.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  17.11.2025

Miss-Universe-Show

Miss Israel erhält Todesdrohungen nach angeblichem Seitenblick

Auch prominente Israelis sind immer öfter mit Judenhass konfrontiert. Diesmal trifft es Melanie Shiraz in Thailand

 17.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  17.11.2025

Jubiläum

Weltliteratur aus dem Exil: Vor 125 Jahren wurde Anna Seghers geboren

Ihre Romane über den Nationalsozialismus machten Anna Seghers weltberühmt. In ihrer westdeutschen Heimat galt die Schriftstellerin aus Mainz jedoch lange Zeit fast als Unperson, denn nach 1945 hatte sie sich bewusst für den Osten entschieden

von Karsten Packeiser  17.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025