Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Jerusalem Foto: Getty Images/iStockphoto

Vor 20 Jahren verfasste der Historiker David Sorkin einen Aufsatz, in dem er die historische Ambiguität des jüdischen Messianismus in wenigen Sätzen skizzierte: »Einerseits gab es eine Vorstellung, gemäß welcher der Messias auf der Basis übernatürlicher Mittel kommen müsste, gemäß einem vorbestimmten Plan; dies führte zu einer passiven Konzeption, die menschliche Einwirkung verbot, ja als häretisch bezeichnete.

Andererseits gab es eine Ansicht, dass der Plan nicht vorbestimmt sei, oder dass dessen Zeit nicht festgelegt sei; dies führte zu einem aktiven Konzept, in dem die Juden definitiv eine Rolle spielten.«

Doppelsinn des Messiasbegriffs

Der Doppelsinn des Messiasbegriffs im Judentum spiegelt sich im Satz, den wir am Sederabend seit Jahrhunderten sprechen: »Nächstes Jahr in Jerusalem.« In ihm steckt einerseits die unendliche Geduld des Wartens und Gottvertrauens, die Bereitschaft, ihn jedes Jahr mit unverbrüchlichem Hoffen auf die Erlösung erneut zu sprechen – und in ihm steckt eine drängende Ungeduld des Aufbruchs, eines erneuten und endgültigen Exodus.

In ihm äußern sich nicht nur unterschiedliche Konzepte jüdischen Messias­glaubens, die einander auszuschließen scheinen, wie sie Sorkin schildert. Der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« verweist vielmehr auf die innere Ambivalenz beider Haltungen. Auch die sogenannte passive Haltung berstet in Wirklichkeit vor Ungeduld, das Gottvertrauen besteht gerade nicht darin, einen ewigen Aufschub gleichmütig hinzunehmen, sondern tatsächlich jeden Moment mit dem großen, göttlichen Befreiungsschlag zu rechnen, mit dem Propheten Elija, der an die Tür klopft und zum Aufbruch drängt.

Demgegenüber wohnt auch der Vorstellung, den Messias aktiv herbeiführen zu können, das Bewusstsein inne, dass Erlösung bei allem Willen und allen Bemühungen kein Selbstläufer ist, dass es einer letzten gleichsam übernatürlichen Versicherung bedarf, damit aus dem Weg zur Erlösung auch Erlösung wird.

Diese Haltung hat zu einem Grundgefühl geführt, das vielleicht zum einzigen, wirklich alle religiösen und weltanschaulichen Unterschiede innerhalb des Judentums überbrückenden Charakterzug geführt hat, den man allenfalls als kollektiv jüdischen bezeichnen könnte: einem Zusammengehen von Ergebenheit in etwas, was man die Macht des oft genug ungünstigen Schicksals nennen kann, mit einer geradezu atemlosen Gewissheit, dass alles auch anders kommen kann, ja kommen wird, als man es sich in den schlimmsten Vorstellungen ausmalen könnte.

Anders als das Christentum hat das Judentum sein Vertrauen nie ins Jenseits gesetzt.

Ich habe das gerade jüngst beispielhaft erlebt, als ich in einer Schweizer Stadt zufällig auf der Straße eine jüdische Bekannte traf. Sie ist gerade kürzlich pensioniert worden, aber statt die neue Ruhe zu genießen, ist sie, wie sie mir erklärte, in eine geradezu übermäßige Rastlosigkeit und Ungeduld verfallen, die alles bestimmt, was sie tut: »Ich habe dauernd Angst, bald ist es für all das zu spät.«

Ich meinte zunächst, sie fürchte sich vor dem Altern, doch bald stellte sich heraus, dass die Grundlage ihrer Angst in den Folgen des 7. Oktober liegt. Nicht nur die Lage in Israel selbst (wo eines ihrer Kinder lebt) versetzt sie in Schrecken, sondern mindestens ebenso die Judenfeindschaft, die sie auf der Welt und in Europa sich ausbreiten sieht.

Jüdische Babyboomer wähnten sich über Jahrzehnte in Sicherheit

Sie sieht alle Sicherheit zusammenbrechen, in der sich die jüdischen Babyboomer über Jahrzehnte gewähnt haben, und scheint tatsächlich auch mit dem Schlimmsten zu rechnen, ihr Vertrauen in die zivilen und gesetzlichen Schutzmechanismen scheint in sich zusammengefallen zu sein.

Doch nachdem wir ausgiebig über die Entwicklungen und Sorgen unserer Gegenwart gesprochen hatten, straffte sich plötzlich ihr Rücken, und sie meinte: »Immerhin wissen wir, dass es mit dem jüdischen Volk immer weitergegangen ist«, bevor sie ihren Weg mit einem Lächeln fortsetzte.

Nach Erlösung klang dies noch nicht, aber doch nach jenem Element in dem Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem«, den wir oft zu wenig beachten, nämlich dass es jedenfalls zumindest ein nächstes Jahr geben wird, und dass darin das ganze Potenzial liegt, dass alles ganz anders und wirklich gut werden könnte. Selbst wenn es also zu nichts weiter reicht, als diesen Satz in einem Jahr wieder zu sprechen, dann ist dies auch schon ein Stück Erlösung, weil es dazu ausreicht, die jüdische Ungeduld weiterleben zu lassen.

Das Judentum hat anders als das Christentum sein Vertrauen nie ins Jenseits gelegt, es kennt anders als der Islam nicht das hohe Gebot der schier unermesslichen Geduld der Gläubigen. Es lebt in dieser Ambiguität zwischen dem Kampf mit einer oft widrigen Realität und der Hoffnung, nein Gewissheit, dass die Rettung – die eigene und womöglich auch die der ganzen Welt – nur eine Handbreit entfernt liegen könnte.

So werden auch an diesem Pessach wieder Millionen von Jüdinnen und Juden in den unterschiedlichsten Settings, aber doch zugleich voneinander gar nicht so unähnlichen Ängsten und Hoffnung diesen so zurückgenommen klingenden und so voller explosiver Befreiungslust steckenden Satz sprechen: »Nächstes Jahr in Jerusalem.«

Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.

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