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#Vorbild

Foto: Getty Images

Vor einiger Zeit postete jemand, dem ich bei Twitter folge, eine Fotografie von sich: Auf dem Bild saß er auf einem Fahrrad und trug einen Helm. Anerkennend kommentierte ein anderer Follower: »Sogar mit Helm!« Und der Verfasser des Beitrags antwortete sinngemäß: »Natürlich! Ich will meinen Kindern doch ein Vorbild sein.« Nachvollziehbar für uns alle und wichtig für die Kinder.

Doch die gleiche Person greift im Netz nicht selten zu Schimpfwörtern gegen Nutzer, die Haltungen zum Ausdruck bringen, die im Allgemeinen nicht sonderlich geschätzt werden. Es ist schwer vorstellbar, dass der Helmträger auch auf der Straße oder im Büro Menschen auf diese Weise anpöbeln würde. Jedenfalls nicht, solange die eigenen Kinder neben ihm stehen. Damit weist er uns, wenn auch ungewollt, auf eine wichtige Einsicht hin: Die meisten von uns haben ein falsches Verhältnis zu den sozialen Medien.

»aufregerthemen« Likes bei Twitter und anderen sozialen Netzwerken, das ist wissenschaftlich bewiesen, aktivieren das Belohnungszen­trum des Gehirns. Es wird Dopamin ausgeschüttet. Zugleich sorgen Mitteilungen mit negativem Inhalt zu »Aufregerthemen« für viel Interaktion. Viel Interaktion bedeutet viel Dopamin. Besonders zugespitzte Kommunikation wird also belohnt. Das widerspricht jedoch dem, was in unseren Schriften über die richtige Kommunikation zu finden ist – ein Thema, das die Weisen schon immer bewegt hat.

In der Tora heißt es (3. Buch Mose 19,2) »Kedoschim tihju« – »Seid heilig«. Der Midrasch Sifra erklärt zu dieser Stelle, dass das hebräische Wort »kadosch« zwar üblicherweise mit »heilig« übersetzt wird, aber eigentlich »verschieden« oder »getrennt« bedeute. Somit meint dieses Gebot: »Sondert euch ab.« Das bezieht sich auf vulgäre Sprache, aber auch anderes vulgäres Verhalten.

Nachmanides, der Ramban, erklärt in seinem Kommentar zu dieser Torastelle, dass die Tora einerseits verschiedene Verhaltensweisen und Speisen verbietet, andererseits aber die Intimität zwischen Ehemann und Ehefrau und den Konsum von koscherem Fleisch und Wein erlaubt. Daher ist es denkbar, dass es einen Vielfraß gibt, der nur koscheres Essen isst, einen Trunkenbold, der nur koscheren Wein trinkt, und einen verheirateten Mann, dessen Verhalten mit seiner Frau unzüchtig ist, obwohl sie für ihn erlaubt ist. Oder es kann eine Person geben, die in einer beleidigenden Weise spricht – was in der Tora nicht ausdrücklich verboten ist.

Es ist ganz einfach: Kommuniziere so, als würden deine Kinder hinter dir stehen.

Nachmanides schreibt, eine solche Person könne »ekelhaft mit der Erlaubnis der Tora« sein. Es ist also nicht ausreichend, den Mizwot wie ein Roboter zu folgen und den Bereich auszuloten, der gerade noch erlaubt ist. Jede Handlung sollte klar erkennen lassen, dass man den Menschen zugewandt ist. Kurzschluss-Tweets im Eifer des Gefechts lassen dies nicht erkennen!

sprache Der Talmud (Ketubot 8b) äußert sich ziemlich klar zu vulgärer Sprache: »Jeder weiß, wozu eine Braut unter den Baldachin kommt, wer aber seinen Mund beschmutzt und Schändliches aus seinem Munde hervorbringt, dem wird es, auch wenn ihm 70 Jahre des Glückes besiegelt worden sind, zum Bösen verwandelt.« Falls es nicht klar geworden ist: Der nächste Schritt der Hochzeit wäre ihr »Vollzug«. Alle wissen, was das bedeutet, aber niemand sollte es aussprechen.

In der Tora heißt es außerdem (5. Buch Mose 23,15): »Lo jireh becha erwat dawar« – »Es soll nichts Unanständiges von euch gesehen werden«. Rabbi Schmuel bar Nachmani verändert im Midrasch Wajikra Rabba (24,7) die Worte und sagt »erwat dibur« statt »erwat dawar«. Der Vers würde nun lauten: »Es soll keine ungebührliche Aussage zwischen euch gesehen werden.« Gemeint ist das Fluchen.

Ein weiterer Effekt der schnellen und hitzigen Kommunikation in den sozialen Medien ist, dass die ständigen Meldungen über verpasste Nachrichten den Druck erhöhen: Du versäumst etwas! Sei schnell! Das Resultat daraus ist oft, dass man seinem Gegenüber zeigen möchte, dass man »besser« ist, und dabei wird schnell ein weiteres Prinzip berührt: »Ona’at Dewarim« (verbale Demütigung) warnt davor, andere nicht zu demütigen oder ihnen unrecht zu tun. Das wird aus der Tora (3. Buch Mose 25,17) abgeleitet: »Tut einander nicht unrecht, sondern fürchtet euren G’tt; denn ich, HaSchem, bin euer G’tt.«

berater Der Kommentator Raschi hielt hierzu fest: »Hier warnt die Schrift davor, durch Worte zu ärgern (die Gefühle eines Menschen zu verletzen) – auf dass man seinen Mitmenschen nicht ärgern und ihm keinen Rat geben soll, der für ihn unpassend ist, sondern (eigentlich) dem Plan und dem Vorteil des Beraters entspricht.«

Im Talmud wird dazu folgende Begebenheit erzählt (Megilla 28a): »Schüler fragten Rabbi Nechunja ben Rana: Wodurch hast du dein Leben verlängert? Er erwiderte: »Niemals wollte ich durch die Herabwürdigung meines Mitmenschen Ehre erlangen, und niemals ging ich zu Bett mit einem Fluch gegen meine Mitmenschen.«

Daraus lernen wir Folgendes: Kommuniziere so, als würden deine Kinder hinter dir stehen und dir über die Schulter schauen, und nimm dir Zeit und denke darüber nach, was gerade passiert. Sicher ist man dann selbst in der virtuellen Welt ein Vorbild.

Der Autor ist Journalist und Blogger.

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