Ist das jetzt schon eine Renaissance? Oder geht das »nur« als Wiederentdeckung durch? Da ist im März 2021 Grete Weils Roman Tramhalte Beethovenstraat neu aufgelegt worden, passenderweise in einem kleinen Berliner Verlag, der sich schon im Namen dem kulturellen Gedächtnis widmet, elf Monate später ebendort auch ihre Erzählung Ans Ende der Welt.
Und nun erschien aus dem Nachlass der 1999 in Grünwald bei München verstorbenen Autorin ihr Erstling Der Weg zur Grenze, niemals zuvor gedruckt und von einem sorgsamen Erläuterungsessay begleitet.
DURCHBRUCH Alle diese Neuauflagen und -ausgaben erfolgen mehr als 20 Jahre nach dem Tod Weils, die erst 1980, im Alter von 74 Jahren, als Autorin den Durchbruch erleben durfte. In jenem Jahrzehnt folgten mehrere Bücher und noch mehr Preise. Und nach ihrem Tod ein jahrzehntelanges Absinken erst ins Halb-, dann ins verlegerische Volldunkel. Im Jahr 2019 dann wurde in ihrer Geburtsstadt München eine Straße ihr zu Ehren benannt, an der äußersten westlichen Stadtgrenze, parallel zu einer der Pumuckl-Schöpferin Ellis Kaut gewidmeten Straße.
Auf kulturelle Ablehnung war Grete Weil schon früh gestoßen. Ihr Kurzroman Ans Ende der Welt wurde von Verlagshäusern in den drei westlichen Besatzungszonen abgelehnt – und erschien 1949 bei Volk und Welt in Ost-Berlin, nahezu folgenlos. Erst 1962 kam er auch in der Bundesrepublik heraus, nachdem Weil sich als Übersetzerin einen Namen gemacht und auch ein Libretto für den jungen, mit ihr befreundeten Komponisten Hans Werner Henze verfasst hatte.
Eine Generation zuvor, 1932, hatte die großbürgerliche Münchner Anwaltstochter den Theaterdramaturgen Edgar Weil geheiratet. Ein Jahr später erfolgte die Flucht nach Amsterdam, ab 1940 der Versuch zu überleben, im Versteck, auf der Flucht vor den Häschern. Edgar Weil, im Juni 1941 verhaftet, wurde im September 1941 im KZ Mauthausen ermordet.
VERSTECK Leicht verschleiert begann Grete Weil damals, ihre Liebesgeschichte aufzuschreiben – in ihrem Versteck, wie passend für sie, die studierte Germanistin: hinter einer Bücherwand! – und von ihrer beider Leben und Schicksal zu erzählen, in Romanform. Parallel dazu war sie für den Widerstand tätig, fälschte Lebensmittelkarten. Überlebte. Und kehrte 1947 nach Deutschland zurück, was nicht wenige ihrer Bekannten und Freunde weder nachvollziehen noch verstehen konnten.
Sie fand eine zweite Liebe, den Jugendfreund Walter Jockisch, Dramaturg, Opernregisseur und Theaterintendant, der 1970, neun Jahre nach der Heirat mit Grete Weil, starb. Mehr als ein halbes Jahrhundert später erscheint nun Der Weg zur Grenze, ein autobiografischer Roman, in dem die Hauptfigur Monika Merton, Tochter eines wohlhabenden Mediziners aus München, 1936 auf der Flucht nach Österreich einem freundlichen, etwas weltverträumten Dichter begegnet. Diesem erzählt sie von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus.
Es ist eine Beichte, durchzogen von ebenso großer Selbstkritik wie von Lebens- und Gefühlsunsicherheit, zeugend von Jugend, dem Verlust des Verstandes und dem Irrsinn politischer Wetterlagen. Aus Naivität, muss sie erfahren und durchmachen, folgt bei damit verschwisterter Unvernunft der Tod. Am Ende kommt Monika um Haaresbreite davon.
ERZÄHLPERSPEKTIVE Stilistisch eine Tonlage zwischen Neuer Sachlichkeit und erkaltetem Spätexpressionismus anschlagend – so schält einmal eine der Figuren, Andreas, »mit langen, spinnendünnen Fingern« eine Orange –, entschied Weil sich aber klug für eine eher allwissende Erzählperspektive. So hält sie Distanz zwischen gelebten und erlittenen Erfahrungen und der Fiktion.
In einem Interview sagte Grete Weil: »Es gab nur noch die eine Aufgabe, gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit. Vergessen tötet die Toten noch einmal. Vergessen durfte nicht sein. Und so schrieb ich weiter. Und immer häufiger wurde ich gelesen, und das war ein schwacher Abglanz von Glück.« Dieses Buch ist eine glückliche und wichtige Ergänzung des Werkes von Grete Weil.
Grete Weil: »Der Weg zur Grenze«. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingvild Richardsen. C. H. Beck, München 2022, 384 S., 25 €