Rezension

Trotzki-Biograf und Essayist

Isaac Deutscher (1907–1967) Foto: imago/United Archives International

Rezension

Trotzki-Biograf und Essayist

Isaac Deutschers Band »Der nichtjüdische Jude« zeigt Stärken und Schwächen des eigensinnigen Historikers

von Marko Martin  25.11.2024 10:02 Uhr

Was für ein im doppelten Wortsinn merk-würdiges Buch! Als Essaysammlung 1968 ein Jahr nach Isaac Deutschers Tod in London erschienen, 20 Jahre später in der deutschen Übersetzung des unvergesslichen Eike Geisel im linken Rotbuch Verlag herausgekommen, wurde es unlängst ohne jegliche kommentierende Einordnung erneut im Verlag Klaus Wagenbach publiziert.

Womöglich aber entspricht genau diese Melange aus Kontinuität und Erratischem dem Werk und Leben jenes jüdischen Marxisten Isaac Deutscher. 1907 in einem Schtetl in Galizien zur Welt gekommen, wurde er in jungen Jahren am Hof des »Wunderrabbi« Zaddik von Ger von festen Glaubensregeln ebenso an- wie abgestoßen.

Nach vielerlei biografisch-politischen Wechselfällen, Ein- und Austritt bei den polnischen Kommunisten, Exil in England und nachfolgender Publikation einer dreibändigen Trotzki-Biografie genoss er in den 60er-Jahren bei der angelsächsischen »New Left« zwischen London und Berkeley geradezu Kultstatus ob seiner zahlreichen Texte, seiner Integrität und Argumentationskünste. (Wer von der polyglott klugen, häufig aber eben auch allzu dialektisch klügelnden Diktion dieses antistalinistischen Marxisten noch heute einen Eindruck bekommen möchte, wird auf YouTube fündig.)

Das 1968 geschriebene Vorwort seiner Witwe Tamara Deutscher mag etwas hagiografisch sein, dennoch ist es rührend in der Beschreibung eines faszinierenden Jahrhundertwegs. Das gilt ebenso für die in bewundernswert kristallinem Stil verfassten Essays des Historikers, die sich mit jüdischer Identität jenseits des Religiösen beschäftigen, die katastrophale Lage der Juden im vorrevolutionären Russland beschreiben und sich am Zionismus auf durchaus lesenswerte Weise abarbeiten.

In diesem nämlich sah Deutscher eine ob aller Verfolgungen und Diskriminierungen zwar verständliche, aber letztlich anachronistische Rückwendung zum Nationalstaat, wo es doch Aufgabe der Juden sei, universalistisch und revolutionär zu wirken – seine säkulare Ahnengalerie reicht hier von Spinoza, Heine und Marx bis zu Rosa Luxemburg und Leo Trotzki. (Kein Wunder, denkt der Leser, dass der liberale britische Ideenhistoriker Isaiah Berlin, der 1919 mit seiner Familie aus Sowjetrussland geflüchtet war, Isaac Deutscher nicht der Gilde der Akademiker zurechnen wollte.)

Die Analysen des stalinistischen Antisemitismus haben keinerlei Patina angesetzt

Dabei haben Deutschers Analysen des stalinistischen Antisemitismus keinerlei Patina angesetzt, und auch sein fortgesetztes Hoffen auf eine universelle Verbesserung gesellschaftlicher Zustände ließe wohl nur abgebrühte Zyniker kalt.

Als der Autor Anfang der 50er-Jahre zum ersten Mal nach Israel kommt, findet er sogar die Kraft, öffentlich einzugestehen, dass seine jugendliche Agitation gegen den vermeintlich eskapistischen Zionismus töricht war: »Wenn ich in den 20er- und 30er-Jahren, statt gegen den Zionismus anzugehen, die europäischen Juden aufgefordert hätte, nach Palästina zu gehen, hätte ich womöglich geholfen, einige Menschenleben zu retten, die später in Hitlers Gaskammern ausgelöscht wurden.«

Er wusste, wovon und über wen er schrieb: Auch seine Eltern und zwei der Geschwister waren in Auschwitz ermordet worden.

Umso größer nun seine Wertschätzung der Kibbuzim – und wunderbar befreit sein Lachen, als man ihm die Geschichte von den sowjetischen Gesandten erzählt. Diese hatten in den 30er-Jahren einen Kibbuz besucht, hatten mit Irritation die offensichtlichen Unterschiede zu sowjetischen Zwangs-Kolchosen festgestellt und schließlich gefragt, wo sich denn das »Kibbuz-Gefängnis« befände, schließlich könne eine Gemeinschaft ab 100 Menschen nicht ohne ein Gefängnis auskommen.

Nach 1967 zeiht er Israel des Neokolonialismus

Freilich zeigt sich dann nach dem Sechstagekrieg 1967 auch Isaac Deutscher in absoluten Setzungen gefangen, indem er Israel des Neokolonialismus zeiht und – in absurdem Abstrahieren von arabischem Judenhass und der reaktionären Verfasstheit jener Länder – einen künftigen Nahost-Frieden vom gemeinsamen Aufbau des Sozialismus abhängig macht. (Vielleicht ist es ja diese Illusion, die auf dem hinteren Klappentext die Neo-»Israelkritikerin« Eva Menasse dazu bringt, Isaac Deutscher ein »geradliniges Denken« zu bescheinigen.)

Der letzte Essay befasst sich dann in erneut berührender Empathie mit den Bildern Marc Chagalls, doch nicht nur aus diesem Grund klappt man das Buch schließlich mit einer gewissen Wehmut zu: Waren das noch Zeiten, als selbst die Irrtümer der Linken noch emanzipatorisch grundiert waren anstatt in »wokem« Lifestyle den ranzigsten Antisemitismus neu aufzufrischen.

Isaac Deutscher: »Der nichtjüdische Jude«. Aus dem Englischen von Eike Geisel und Mario Offenberg. Wagenbach, Berlin 2023, 205 S., 15 €

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