Essay

Raus aus der Komfortzone!

»Seid nicht feige!«: Sonia Mikich hat sich Aufnahmen des Massakers vom 7. Oktober angesehen. Foto: picture alliance/dpa

Ja, wir sind on- und offline immer informierter, aber nicht weiser. In diesen Wochen stirbt die Wahrheit tausendfache Tode, das ist der Fluch der Nachrichtenbeschaffung in Echtzeit, und wer die Geschehnisse doch verfolgen möchte, jagt einem »vollständigen Bild der Lage« vergeblich hinterher. So viel Medienkonsum oder Aktivität auf den Endgeräten schafft niemand. Ich schaue Öffentlich-Rechtliche, Al Jazeera, CNN, n-tv und klicke und lese mich wund durch X/Twitter und Tageszeitungen, höre Podcasts und habe eine expertenreiche WhatsApp-Gruppe als mediale Rettungsweste in der Flut.

Ganze Archive entstehen in meinem Kopf, das erste stammt aus Israel und Gaza. Die befreiten kleinen Geiseln rennen ihren Liebsten entgegen, ich höre das herzzerreißende Schluchzen der Familien am Krankenbett. Die Landkarte Israels ist übersät mit Punkten der Raketeneinschläge. Zuvor das Grau der Nachtsichtgeräte, als israelische Soldaten Treibstoff ans umkämpfte Krankenhaus brachten oder Tunneleinstiege fanden. Zu Staub und Schutt zermalmte Häuser und Wohnungen in Gaza. Frühchen im Brutkasten. Wütende Palästinenser, die es kurz schafften, die Hamas in die Mikrofone hinein zu verfluchen.

Zusammenschnitt der »Made by Hamas«-Videos und -Fotos

Es bedurfte eines Rucks, aber ich entschied mich auch, einen Zusammenschnitt der »Made by Hamas«-Videos und -Fotos anzuschauen und fast spiegelbildlich die ergreifenden Handyaufnahmen der Opfer. Anderswo hatten Journalisten und Reporterinnen die Chance, eine von der israelischen Armee zusammengestellte lange Doku der Massaker vom 7. Oktober zu sehen, und deren Zeugenaussagen im Anschluss wühlten auf. Dem ultimativ Bösen begegneten sie dort, grauenvoll. Das Anschauen trotz Triggerwarnung wollte ich ebenfalls auf mich nehmen, um die Täter zu verdammen und die Opfer zu würdigen und den Tag nie wieder zu vergessen, auch wenn das pathetisch klingt.

Ist es eine Zumutung, wenn ich hoffe, dass viele, viele Menschen (nicht nur Politiker oder Journalistinnen) diese Videos mit aufklärender Begleitung sehen? Oder die Beschreibungen jener hören, die die Leichen identifizieren, Blutlachen wegwischen, Fleischfetzen zuordnen? Die Verdrängung dessen, was am 7. Oktober ins Rollen kam, sie wäre nicht mehr möglich.

Konfrontiert euch! Seid nicht feige!

Konfrontiert euch! Seid nicht feige! Denn die Deutungshoheit ist keineswegs bei Israel oder den Jüdinnen und Juden hierzulande oder in Geschichtsbüchern oder in Augenzeugenberichten. Wie sonst soll ich verstehen, dass Menschen bei mir im alternativen Viertel die Poster mit Bildern der Geiseln von Wänden abreißen? Andernorts lachen sie sogar dabei. Auch diese Szenen gehören zu meinem Fotoarchiv der Abgestumpftheit.

Heißt das, die gebotene Objektivität verlieren? Absolut nicht, es ist meiner Meinung nach »objektiv« geboten, sich zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit zu entscheiden. Objektiv heißt nicht neutral und verbietet nicht Empathie. Die Bilder aus Gaza zeigen ebenfalls den Horror der Unschuldigen, und ja, auch die verdienen unser Mitleid, und wir müssen sie anschauen. Kriegsbilder haben immer auch propagandistische Zwecke, alle Seiten nutzen sie und scheuen nicht Manipulationen. Aber die Schmerzen der Opfer sind nun einmal grenzenlos. Sie lehren uns alles, was wir über Hass wissen müssen, mehr als ein Post auf einem Endgerät, ein Emoji auf einer Plattform.

Polizeischutz für Synagogen, jüdische Kitas und Schulen

Das zweite Archiv im Kopf entsteht hierzulande, wo sich Antisemitismus flüsternd, brüllend, intellektuell, primitiv, kühl, gewaltbereit schon lange wieder meldete. Wir hatten uns nicht sonderlich damit beschäftigt, dass hierzulande Synagogen, jüdische Kitas und Schulen Polizeischutz bekommen – es war eben bedauerlich, dass es rechtsradikale Idioten gibt. Noch nicht einmal tödliche Attentate von Islamisten haben uns länger erschüttert, als der Nachrichtenzyklus es hergab.

Eines der größten Missverständnisse besteht darin, dass Juden selbst aufklären müssen, was Judenhass ist. Dass vor allem sie selbst lebenslänglich die Mission haben, zu kämpfen und zurechtzurücken. Dass KZ-Überlebende erklären müssen, wie Antisemitismus und Unmenschlichkeit möglich bleiben und warum Israel ein Zufluchtsort sein muss.

Wie sehr wir Nichtjuden von dieser Arbeitsteilung profitierten! Ein Essay in der »Süddeutschen« hier, ein Donnerwort vom Botschafter da, dreimal sich über die Gästeauswahl in einer Talkshow aufregen sowie Unorthodox und Fauda auf Netflix schauen: Schon haben wir Wissenshäppchen fürs Mitreden. Manche blähen dies sogar zur »Expertise« auf.

Es ist »objektiv« geboten, sich zu entscheiden zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit.

Arbeitsteilung to go – die Betroffenen erklären uns, was Judenhass bedeutet, und wir Nichtbetroffenen stimmen zu und lassen sie dann allein. Aber es sollte doch leichtfallen, zu Kundgebungen gegen Judenhass zu gehen. Wenn nicht das Wissen um Auschwitz, so genügen doch der einfache Anstand und das Mitgefühl für die Opfer in Israel und die Bedrängten in Deutschland, um solidarische Beine zu machen?

Schlachtfest der Hamas-Mörder

Das Schlachtfest der Hamas-Mörder hat unsere Komfortzone hoffentlich zunichtegemacht. Der »Kollateralnutzen« ihres Blutrausches ist wohl, dass wir gezwungen sind, das Verdrängen einmal sein zu lassen. Alles ist jetzt auf dem Tisch: unser neuer und alter Antisemitismus, der faschistische und anti-globalistische. Der zementierte Unfrieden im Nahen Osten, das jahrzehntealte Elend der Palästinenser, ihre korrupten Führer, die unfähige Regierung Netanjahu, die gewaltbereiten, rechtsextremen Siedler im Westjordanland. Wer jetzt nicht verstehen will, wie alles mit allem zusammenhängt, dem ist nicht mehr zu helfen. Verstehen heißt nicht akzeptieren, und ohne Verstehen ist Haltung nicht möglich.

Ein Letztes aus meinem Kopfarchiv, die Leerstellen. Mir wurde überdeutlich, dass ich im Berufsleben scheinbar nur zwei (?) jüdische Kollegen näher kannte, an der Uni Jüdinnen oder Juden nicht »vorkamen« und ich auch nicht weiß, was aus meiner einzigen jüdischen Mitschülerin Esther G. wurde. Unsichtbar. Unangesprochen. Unbemerkt. Zumindest das hat sich in diesen Wochen verändert, und es ist ein großer Gewinn.

Die Autorin ist Journalistin und war Chefredakteurin des WDR.

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