Kampagne

Krieg dem »fremden Geist«

Pick-Salami statt Plato? Vorsicht: Die beliebte Wurst ist auch nicht »echt« magyarisch. Der Firmengründer war Jude. Foto: imago / (M) Frank Albinus

Kampagne

Krieg dem »fremden Geist«

Nach Ungarns Medien sind jetzt die Philosophen im Visier – zufällig sind darunter etliche Juden

von Karl Pfeifer  31.01.2011 20:27 Uhr

Agnes Heller ist Ungarns bekannteste Philosophin. 1929 in Budapest geboren, überlebte sie als eine der wenigen aus ihrer Familie die Schoa, studierte nach dem Krieg Philosophie bei Georg Lukács und wurde dessen Assistentin. Als Kopf der kritischen »Budapester Schule« geriet Heller immer wieder in Konflikt mit dem Kádár-Regime. 1977 ging sie ins Exil, erst nach Australien, später in die USA. Jetzt ist die Denkerin wieder zur Zielscheibe der ungarischen Obrigkeit geworden. Diesmal sind es nicht die Kommunisten, die Heller und ihre Kollegen am Philosophischen Institut ins Visier nehmen, sondern es ist die regierende nationalkonservativ-völkische FIDESZ-Partei.

kampagne »Die Hellers haben eine halbe Milliarde ›verforscht‹«, titelten die zwei regierungsnahen Zeitungen am 8. Januar und warfen den »liberalen Philosophen« vor, dieses Geld »mit der Schublade herausgekarrt« zu haben. Unter anderem wurde Heller und ihren Kollegen Sándor Radnóti, Mihály Vajda, Kornél Steiger, György Geréby und György Gábor der Vorwurf gemacht, mit Projektgeldern Plato übersetzt zu haben, obwohl doch schon einige seiner Werke früher übersetzt worden waren. Auch das staatliche Fernsehen beteiligte sich an der Kampagne.

Ein TV-Reporter warf Heller vor, Ministerpräsident Viktor Orbán als »diktatorische Figur« bezeichnet zu haben. (Tatsächlich hatte sie gesagt, Orbán habe »diktatorische Allüren«.) Dazu wurde ein Bild mit Hellers angeblichem Zitat und der Schlagzeile »Verdächtige philosophische Projekte werden untersucht« eingeblendet.

György Gábor, einer der attackierten Philosophen, kommentiert, zuletzt habe er solch einheitliche Titel der Tageszeitungen beim Tod von Breschnew gesehen. Eine »Spitzenleistung der Lohnschreiber« sei auch gewesen, ihn und seine Kollegen zu beschuldigen, sie würden nicht täglich am Arbeitsplatz erscheinen, »als ob Wissenschaftler nicht in Bibliotheken und Archiven forschen müssten und als ob 25 Forscher gleichzeitig in den anderthalb Zimmern des Instituts arbeiten könnten«.

antiliberal Ungarn, das zu Jahresbeginn 2011 turnusmäßig für sechs Monate die EU-Präsidentschaft übernommen hat, ist in der europäischen Öffentlichkeit wegen seines zum gleichen Zeitpunkt in Kraft getretenen repressiven Mediengesetzes ins Gerede gekommen – und in die Defensive. Möglicherweise um davon abzulenken, hat die regierende FIDESZ-Partei diese Kampagne begonnen.

Aber warum gegen die Philosophen? »Genauer, warum gegen diese Philosophen?«, greift Agnes Heller die Frage auf. »Die Philosophie ist kritischen Geistes, die angegriffenen Philosophen sind solche, die diesen kritischen Geist vertreten, in der Zeit einer Regierung, die nur mit begeistertem Ja zufrieden ist. ›Liberale‹ (das hört sich heute in Ungarn so an wie ›Nazi‹ oder ›Kommunist‹), das heißt, frei Denkende, stören, wenn man nur Jasager braucht. Angeblich sind die Liberalen der Grund für den schlechten Ruf der Regierung im ›Westen‹, sonst, denkt sie, würde doch jedermann sich für sie begeistern.«

Und dann äußert Agnes Heller eine Vermutung: »Vielleicht ist es reiner Zufall, aber möglicherweise doch nicht, dass von den sechs angegriffenen Personen drei Juden und zwei Deutsche sind. So kann man auf das uralte Vorurteil anspielen, dass die Philosophie ›keine ungarische‹ Sache sei, sondern schon an und für sich einen ›fremden Geist‹ repräsentiert.«

völkisch So sieht das auch die Antisemitismusforscherin Magdalena Marsovszky: »Ich werte die ganze Kampagne gegen die Philosophen als eine antisemitische Hetzattacke. Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin haben in ihrem Artikel in der Süddeutschen Zeitung richtig geschrieben, dass der Ausdruck ›liberal‹ mit der Konnotation der ›vaterlandslos-kosmopolitischen Gesinnung jüdischer Intellektueller‹ besetzt ist. So war es auch in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg, und genau so ist es heute in Ungarn.«

Für die Deutsch-Ungarin ist »die Rhetorik heute der von damals gespenstisch ähnlich. Sowohl der Kommunismus und der Kapitalismus als auch die urbane Lebensweise in der liberalen dekadenten Großstadt werden in weiten Teilen der Gesellschaft als etwas ›Verjudetes‹ wahrgenommen. Alles, was nicht völkisch ist, soll ausgeschaltet werden.« Es ist wohl auch kein Zufall, dass in den Berichten der regierungsnahen Zeitungen immer wieder unterstrichen wird, dass György Gábor Professor am Landesseminar für die Ausbildung von Rabbinern ist.

widerstand Widerstandslos wollen die angegriffenen Philosophen die Attacken nicht hinnehmen. Sándor Radnóti, einer von ihnen, war schon in der demokratischen Opposition gegen die Kommunisten aktiv: »Die Regierung möchte kritische Stimmen zum Schweigen bringen. Ich nehme den Fehdehandschuh auf und setze meine kritische Tätigkeit fort. Dabei hilft mir, dass ich mit meinen älteren Kollegen und Freunden, mit Agnes Heller und Mihály Vajda schon mal so etwas erlebt habe, während der Kádár-Periode, als wir mit Berufsverbot belegt wurden.« Allein stehen Radnóti und seine Kollegen dabei nicht: »Mir hilft die kollegiale Solidarität, die ich erfahre, auch von konservativen, im politischen Sinne rechts stehenden Kollegen.«

Unterstützung erhoffen sich die Philosophen aber auch aus dem Ausland. Denn die FIDESZ-Machthaber, die mit impliziten antisemitischen Kampagnen versuchen, ihre Kritiker einzuschüchtern, können ihr Ziel nur erreichen, wenn Europa das als »innere Angelegenheit« betrachtet und nicht den Kräften in Ungarn hilft, die sich gegen die Einführung eines autoritären Systems wehren.

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  30.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025

Interview

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  29.11.2025

Hollywood

Die »göttliche Miss M.«

Die Schauspielerin und Sängerin Bette Midler dreht mit 80 weiter auf

von Barbara Munker  28.11.2025

Literatur

»Wo es Worte gibt, ist Hoffnung«

Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen über arabische Handwerker, jüdische Mütter und ihr jüngstes Buch

von Ayala Goldmann  28.11.2025

Projektion

Rachsüchtig?

Aus welchen Quellen sich die Idee »jüdischer Vergeltung« speist. Eine literarische Analyse

von Sebastian Schirrmeister  28.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  28.11.2025