»The Shrink Next Door«

Grenzenlos übergriffig

Will Ferrell (l.) als Marty und Paul Rudd als Ike Foto: Apple TV+

»True Crime« ist die Genre gewordene Antwort auf die Frage, wo die besten Geschichten geschrieben werden: im wahren Leben. Zugleich ist es ein Genre, das vor allem davon lebt zu zeigen, wie skurril, abgründig und unfassbar unsere Welt sein kann. Doch auch dem, der sich schon nächtelang durch die umfangreichen True-Crime-Portfolios der hiesigen Streaminganbieter gebinged hat, dürfte bei der Geschichte hinter der Apple TV+-Produktion The Shrink Next Door die Kinnlade herunterfallen.

KONTROLLE Was die auf einem Drehbuch von Georgia Pritchett basierende, von den Regisseuren Michael Showalter und Jesse Peretz umgesetzte Miniserie in acht Folgen nacherzählt, ist schier unglaublich: Da bringt der New Yorker Psychiater Isaac »Dr. Ike« Herschkopf seinen Patienten Marty Markowitz buchstäblich unter seine Kontrolle, bringt ihn dazu, mit seiner Familie und Bekannten zu brechen, steigt in die Firma seines Schützlings ein, nutzt ihn finanziell aus, lebt in dessen Luxushaus in den Hamptons, als sei es sein eigenes, und verdrängt den Eigentümer in das Gästehaus.

Erst im Frühjahr 2021 wurde Herschkopf die Therapeuten-Lizenz entzogen.

Fast drei Jahrzehnte (!) dauerte der Spuk, wie Joe Nocera, ein ehemaliger Journalist der »New York Times«, schließlich herausfand. Nocera kaufte ein Haus in den Hamptons und lernte Herschkopf auf den Partys kennen, zu denen der Psychiater im Haus seines Patienten regelmäßig einlud. Die Recherchen des Journalisten mündeten in dem preisgekrönten, gleichnamigen Podcast, auf dem die Apple-Serie basiert. Erst im Frühjahr 2020 wurde Herschkopf die Therapeuten-Lizenz entzogen.

Pritchett, Showalter und Peretz machen aus dem Stoff eine tragikomische Serie voller Melancholie über zwei jüdische Männer mit psychologischen Prädispositionen. Marty Markowitz, herrlich Hundeblick-lieb von Will Ferrell gespielt, wohlhabend, aus überbehüteten Verhältnissen kommend, ist konfliktscheu und leidet unter dem Druck, in die Fußstapfen seines Vaters als Chef der familiären Textilfirma getreten zu sein.

NARZISST Dr. Ike ist ein narzisstischer, dabei nicht unsympathischer Typ, der seinen Patienten mit Weisheiten einlullt wie: »Das Ziel des Lebens ist zu leben«. Paul Rudd spielt ihn zwischen kalkulierter Kälte, einnehmendem Freundesgebaren und Lebemensch. Dass seine Figur verrückt ist nach Fotos mit Prominenten, ist keine Erfindung der Serie. Wer den Namen Herschkopf in die Suchmaschine eingibt, findet Schnappschüsse, auf denen der reale Arzt neben Gwyneth Paltrow oder O.J. Simpson posiert.

Ferrell und Rudd glänzen in der aus dem Ruder laufenden Buddy-Geschichte, die alles andere als plotgetrieben daherkommt. Sicher: The Shrink Next Door kratzt, psychologisch gesehen, an der Oberfläche, die Handlung hätte in weniger Folgen gepasst, und die Dynamik zwischen den beiden Männern dreht sich ein ums andere Mal im Kreis. Doch ist es auch geradezu angenehm, dass die True-Crime-Serie den Crime eben nicht ausschlachtet und, zusammengehalten von einem melancholischen Soundtrack, gemächlich dahin schleicht.

BARMIZWA Ab 1981 durch Jahrzehnte springend, zeigt The Shrink Next Door, wie Herschkopf immer größeren Einfluss auf Marty gewinnt: Martys zweite Barmizwa, die der Psychiater ihm zum 40. Geburtstag als »therapeutische Mizwa« aufschwatzt, weil sein Patient den Großteil seiner ersten aus Angst vor den vielen Menschen mit flauem Magen auf dem Klo verbrachte; die Trennung von der Schwester Phyllis (toll trampelnd und herzlich: Kathryn Hahn) und und und. Später fällt Marty im Garten des Landhauses den Familienkirschbaum, den Herschkopf als verlängerte Vagina der Mutter verteufelt, bevor Letzterer zu seinen Gatsby-mäßigen Themenpartys einlädt und Marty als Diener ausnutzt.

Als »Psychologe, Businesspartner, bester Freund« beschreibt Marty seinen Arzt einmal: ein Dreiklang der grenzenlosen Übergriffigkeit. Am Ende kommt ein Faktor heftig zum Tragen: die Zeit. Ihr Vergehen gibt The Shrink Next Door schließlich richtig tragische Schlagseite. Wie schlimm muss es sein, zu verstehen, dass man so lange Zeit auf das falsche Pferd gesetzt hat, ja: nicht man selbst war?

Die Serie »The Shrink Next Door« ist auf Apple TV+ zu sehen.

Sachbuch

Die Gruppe 47, Günter Grass und die ersten »Shitbürger«

»WELT«-Herausgeber Ulf Poschardt rechnet in seinem neuen Bestseller »Shitbürgertum« auch mit der Kontinuität des deutschen Judenhasses ab. Ein exklusiver Auszug

von Ulf Poschardt  01.09.2025

Kulturkolumne

Das Hessenlied

Wie aus einem Sowjetbürger ein Besser-Wessi wurde

von Eugen El  01.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  01.09.2025 Aktualisiert

Meinung

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  01.09.2025 Aktualisiert

Medizin

Revolutionäre Implantation

Ein israelisches Biotech-Unternehmen plant die weltweit erste Übertragung künstlichen Rückenmarks

von Sabine Brandes  31.08.2025

Solidarität

Israels Präsident ehrt Springer-Chef Döpfner

Isaac Herzog: »Döpfner handelt aus tiefer Verpflichtung gegenüber den Werten von Freiheit und Demokratie«

 31.08.2025

Aufgegabelt

Spätsommer im Glas: Granatapfel-Slushie

Rezepte und Leckeres

 31.08.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Zwei Croissants, einen starken Kaffee und drei Tagträume von Tel Aviv, bitte

von Nicole Dreyfus  31.08.2025

Interview

»Von Freude und Schmerz geprägt«

Susan Sideropoulos über ihr neues Buch, den Tod ihres Vaters und darüber, wie man in schweren Zeiten glücklich wird

von Mascha Malburg  31.08.2025