Geschichte

Eine Serie ging um die Welt

Szene aus der amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« (1979) Foto: dpa

Man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, aber das Wort »Holocaust« war bis vor 40 Jahren in der deutschen Bevölkerung weitgehend unbekannt. Erst mit der US-Serie dieses Namens, die ab 22. Januar 1979 erstmals ausgestrahlt wurde, etablierte sich der Begriff.

Und erst mit »Holocaust« wurde der Völkermord an den Juden für Millionen Deutsche konkret. Viele Ältere, die noch selbst die Nazizeit miterlebt hatten, vergossen damals Tränen – nicht über reale Menschen, sondern über die fiktive Familie Weiss.

UMSTRITTEN Der Ankauf der US-Serie war überaus umstritten – das dokumentiert jetzt der Film Wie »Holocaust« ins Fernsehen kam, der heute im WDR und übermorgen, am 16. Januar, im NDR und SWR gezeigt wird. Auch die Serie selbst wird derzeit wiederholt.

Nur in Deutschland gab es erbitterten Widerstand gegen die Ausstrahlung.

»Diese Sendung Holocaust war nach meiner Erinnerung die umstrittenste Sendung, die der WDR je hatte«, sagt Petra Witting-Nöthen, die das historische Archiv des Senders leitet. Der damalige WDR-Fernsehspielchef Günter Rohrbach bekam Morddrohungen, auf zwei Sendemasten wurden Sprengstoffanschläge verübt.

In der Politik, in der Presse und in der Bevölkerung – überall gab es Bedenken: Die Rechten ereiferten sich über die »Hetzserie«, die Linken lehnten das »kommerzielle Hollywood-Melodram« aus Amerika ab. Viele Intellektuelle waren der Meinung, dass man die Massenvernichtung überhaupt nicht in Unterhaltungsfilmen aufbereiten dürfe. Und deutsche Filmemacher äußerten sich abfällig über manche Kameraeinstellung.

BEDENKEN »Stellen Sie sich mal vor: Die ganze Welt sendet es – aber die Deutschen haben ästhetische Bedenken«, sagt der heute 90 Jahre alte Rohrbach. Eine Ausstrahlung in der ARD konnte aber auch er nicht durchsetzen – als Kompromiss landete die Serie in den Dritten Programmen, die sich dafür immerhin auf gemeinsame Sendetermine einigten. An den meisten DDR-Bürgern ging die Serie dadurch vorbei: Sie konnten nur ARD und ZDF empfangen.

Eines steht fest: Die Serie veränderte Deutschland grundlegend.

Als der Vierteiler erst einmal lief, entfaltete er sofort eine enorme Wirkung. Nach WDR-Angaben hat damals fast die Hälfte der Bundesdeutschen über 14 Jahren wenigstens einen Teil der Serie gesehen. »Es war ein gewaltiger Erfolg«, erinnert sich Rohrbach, »und der Erfolg bestand aber in einem Entsetzen.«

SCHICKSALE Deutsche Filmemacher und Schriftsteller fragten sich, warum ihnen keine vergleichbare Erschütterung gelungen war. Zumal Holocaust noch nicht einmal für das deutsche Publikum konzipiert war, sondern eben für amerikanische Zuschauer. Die Antwort ist wohl: Holocaust erzählte das Geschehen einerseits aus der Opferperspektive. Das Leid von Millionen wurde in einem Einzelschicksal verdichtet – ähnlich wie dies auf andere Weise das Tagebuch der Anne Frank tut. Mit den Hauptfiguren der Serie konnte man sich identifizieren, es waren richtige deutsche Bildungsbürger mit Flügel und Goethe-Gesamtausgabe.

Am Ende der Debatte lief »Holocaust« im Dritten Programm.

Dadurch dass jedoch gleichzeitig in einem zweiten Handlungsstrang die Karriere des Nazis Erik Dorf nachgezeichnet wurde, war es den Zuschauern, die selbst noch die Nazizeit erlebt hatten, nicht möglich, sich auch zum Opfer zu stilisieren. Die Frage, wo man selbst gestanden hatte, war unausweichlich.

Und so wollten denn auch viele Zuschauer in den anschließenden Diskussionsrunden wissen: »Wie erklären wir unseren Kindern, dass wir das nicht verhindert haben?« Die Antwort darauf konnte ihnen kein Studioexperte geben.

ERHEBUNG Einer Umfrage zufolge zeigten sich nach der Ausstrahlung 64 Prozent der Zuschauer erschüttert, 22 Prozent gaben an, fast geweint zu haben. Das war für die damalige Zeit außergewöhnlich, denn das Deutschland des Jahres 1979 war den Verbrechen noch sehr nahe.

Wenn man von dort noch einmal 40 Jahre zurückrechnet, befindet man sich im Jahr 1939. Wie die Filmemacherin Alice Agneskirchner recherchiert hat, schickten sogar viele ehemalige Wehrmachtssoldaten Fotos ein, die die Massenmorde während des Russlandfeldzugs dokumentierten.

Erst durch die Serie sei so etwas wie Erinnerungskultur in Deutschland entstanden, meint Experte Werner Jung.

»Erst durch diesen Film ist so etwas wie Erinnerungskultur in Deutschland entstanden«, sagt der Direktor des NS-Dokumentationszentrums Köln, Werner Jung. Wenige Monate später entschied der Bundestag in einer Abstimmung, dass die Massenmorde aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht verjähren sollten.

Die Mehrheit dafür war nur knapp: 255 zu 222. Man kann sich fragen, wie sie ohne die Holocaust-Serie ausgefallen wäre.

Die Dokumentation läuft am 14. Januar um 22.10 Uhr im WDR sowie am 16. Januar um 23.45 Uhr im SWR und NDR.

Berlin

Erste Ausstellung über den Architekten Ossip Klarwein

Präsentiert werden mehr als 100 Entwürfe und Modelle, darunter ikonische Bauten des 1933 nach Palästina geflohenen jüdischen Architekten

 17.06.2025

Nachruf

Chronist einer ganzen Epoche

Michel Bergmann war ein Schriftsteller, der viele Genres beherrschte

von Ellen Presser  17.06.2025

Los Angeles

Neues Album von Haim: »Manchmal muss man loslassen«

Auf ihrem vierten Album singen die Haim-Schwestern von Trennung, Abschied und Neuanfang. Dabei betritt das Trio mit beinahe jedem Song ein anderes musikalisches Terrain

von Philip Dethlefs  17.06.2025

Diskurs

»Die Erinnerungsrepublik Deutschland ist zu Ende«

Auszüge aus der Heidelberger Hochschulrede des Grünen-Politikers Sergey Lagodinsky

 16.06.2025

Literatur

Michel Bergmann ist tot

Der jüdische Schriftsteller starb im Alter von 80 Jahren

 17.06.2025 Aktualisiert

Taormina Film Fest

Michael Douglas entschuldigt sich für Politik der US-Regierung

Der Darsteller erhält von Iris Knobloch eine Ehrung für sein Lebenswerk. Die Vergabezeremonie in Sizilien nutzt er für Kritik an seinem Land

 16.06.2025

Fernsehen

Luftraum in Israel gesperrt: »Fernsehgarten« ohne Kiewel

Die Moderatorin lebt in Tel Aviv - doch zu ihrer Jubiläumssendung konnte sie nicht anreisen

 15.06.2025

Leo Baeck Institut

»Die Wissenschaft ist keine Oase«

Michael Brenner über das vor 70 Jahren gegründete Archiv der Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums, freie Forschung und bedrohte Demokratie

von Ayala Goldmann  15.06.2025

Kunst

Öffnet die Herzen!

Die Israelin Bracha Lichtenberg Ettinger fordert mit einer intensiven Einzelschau in Düsseldorf die Besucher heraus

von Eugen El  15.06.2025