Berlinale

Dokumentarfilm »Holding Liat« blickt differenziert auf Nahost

Liat Beinin Atzili, Lehrerin und ehemalige Geisel der Hamas, steht nach Berlinale-Premiere des Films »Holding Liat« im Delphi Filmpalast. Der Film läuft im Berlinale Forum. Foto: picture alliance/dpa

Kein Antisemitismus auf der Berlinale! Das ist der Anspruch, den die neue Festivalchefin Tricia Tuttle formuliert hat. Nachdem 2024 bei der Preisverleihung einseitig pro-palästinensische und anti-israelische Statements unwidersprochen geblieben waren, soll Tuttles erste Berlinale ein Ort des Dialogs sein: »Je mehr die Debatte sich radikalisiert, desto dringender brauchen wir einen Ort für differenzierte Gespräche«, sagte Tuttle im Vorfeld. Dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, ist aber gar nicht so einfach, wie sich schon in den ersten Berlinale-Tagen zeigt. Immer nur Statements

Statt des Dialogs steht fast zwanghaft das Statement im Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Filmschaffende äußern sich auf Festivalbühnen oder bei Pressekonferenzen zu den Dingen, die ihnen wichtig sind, aus ihrer jeweils eigenen Perspektive heraus. Vertiefende Gespräche darüber, Widerspruch und Differenzierung kommen dabei kaum zustande.

Das kann für Missklänge sorgen

Ausgerechnet die strahlende Tilda Swinton, die in diesem Jahr zur Eröffnung mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet wurde, demonstrierte das am Freitag bei einer Pressekonferenz, als sie Bewunderung und Respekt für die BDS-Kampagne (»Boykott, Desinvestition und Sanktionen«) bekundete, die zur wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Isolierung Israels aufruft.

Nachdem sich Swinton am Vorabend in ihrer Dankesrede anlässlich der Preisverleihung noch allgemein gegen Lagerbildung, Ausgrenzung und Krieg geäußert und das Kino als utopischen Ort der Verständigung und einer Horizonterweiterung beschworen hatte, stand nun eine verletzende Einseitigkeit im Raum und sorgte prompt für einen ersten Aufreger der 75. Berlinale.

Filme sollen Dialog fördern

Gescheitert wäre das Festival als Ort des Dialogs am Ende aber nur, wenn solche Statements das Einzige wären, was hängenbliebe. Die Berlinale ist wie alle Filmfestivals primär keine Plattform für Statements, sondern eine für Filme. Sie sollen es sein, die Zuschauer auf- und anregen, zum Nachdenken und Nachfragen und ins Gespräch miteinander bringen. Also warum nicht anstelle von Swintons BDS-Sympathien über einen Film wie »Holding Liat« sprechen, der in der Sektion »Forum« läuft?

»Holding Liat« befasst sich mit dem Schicksal einer der israelischen Geiseln, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas verschleppt wurden. Am Beispiel der Familie der Geisel demonstriert er genau das, was Tuttle sich fürs ganze Festival wünscht: nämlich die Bereitschaft, differenzierte Gespräche zu führen und Komplexitäten und Kontroversen auszuhalten, ohne in Hass zu verfallen.

Nachdenklicher Blick auf Gewaltspirale

Neben »A Letter to David«, einem filmischen Brief des Filmemachers Tom Shoval an den ebenfalls von der Hamas als Geisel verschleppten Schauspieler David Cunio, ist »Holding Liat« einer der Beiträge, mit denen die Berlinale dem Versagen bei der Preisverleihung 2024 begegnen will. Der Filmemacher Brandon Kramer begleitet die Angehörigen der israelisch-amerikanischen Lehrerin Liat Beinin Atzili, die zusammen mit ihrem Mann Aviv wie David Cunio aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde. Sie gehen durch die quälende Phase der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen, aber auch die des Kampfes, um Liats Freilassung zu erwirken.

Dieser Kampf führt Liats Vater Yehuda und einen ihrer Söhne bis in die USA, um die politische Unterstützung der Biden-Administration zu gewinnen. Und findet schließlich ein Ende, das gleichermaßen glücklich wie niederschmetternd ist. Zwar kann die Familie Liat wieder in die Arme schließen; doch Liats Mann Aviv ist tot und wird schmerzlich betrauert.

Lesen Sie auch

Brandon Kramer, der mit den Beinins verwandt ist, hat nicht nur einen Film gedreht, der die Traumata des Terrorüberfalls und der Geiselnahme spürbar macht. Er eröffnet auch einen komplexen, einen äußerst nachdenklichen Blick auf die Gewaltspirale im Nahen Osten. Das lieg nicht zuletzt an den Beinins selbst, die über ihren eigenen Schmerz hinaus die Geschichte und gegenwärtige Situation ihres Landes kritisch und kontrovers reflektieren - und in der Lage sind, auch das Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht auszublenden.

An der Hoffnung festhalten

Vor allem Liats Vater Yehuda erweist sich als beeindruckend streitbare Persönlichkeit, die einerseits zutiefst desillusioniert ist, nicht zuletzt von der Regierung Netanjahu. Andererseits aber hält er hartnäckig an der Hoffnung fest, dass es für Israelis und Palästinenser möglich sein müsse, miteinander umzugehen, ohne sich gegenseitig immer nur auslöschen zu wollen.

»Holding Liat« ist ein Film, der wesentlich mehr zu sagen hat, als in ein Statement bei einer Pressekonferenz passt. Dass kurz nach der Berlinale-Premiere drei weitere Männer aus der Geiselhaft der Hamas freigelassen wurden, ist eine gute Nachricht. Das Schicksal des Schauspielers David Cunio, der 2013 mit dem Film »Youth« auf der Berlinale zu Gast war, ist derweil weiter ungewiss. Bei der Eröffnung der Berlinale erinnerten deutsche Filmschaffende, unter anderem Andrea Sawatzki und Ulrich Matthes, gemeinsam mit Intendantin Tuttle am roten Teppich mit Fotos des Schauspielers an dessen Schicksal.

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025