27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Walter Scheel (Mitte) mit dem Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Kazimierz Smolen (2.v.r.), der selbst Häftling in Auschwitz gewesen war, Otto Küsel persönlich kannte und »sehr lebendig und warmherzig über ihn« erzählte. Foto: picture alliance / PAP

27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Der »Berufsverbrecher« Otto Küsel rettete Hunderten das Leben. In Polen ist er ein Held, in Deutschland fast unbekannt. Das will Sebastian Christ mit einem Buch ändern, für das er 20 Jahre lang recherchiert hat

 23.04.2025 21:26 Uhr

Am 27. Januar jährte sich die Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz zum 80. Mal. Einer der ersten Häftlinge, die dort interniert wurden, war Otto Küsel. »Ein unbekannter Held«, wie ihn Sebastian Christ bezeichnet.

Küsel rettete Hunderten Polen das Leben. »Er war ein freiheitsliebender Mensch, lebte als Straßenhändler in Berlin und geriet im Zuge der Weltwirtschaftskrise auf die schiefe Bahn. Er wurde mehrfach verurteilt, aller Wahrscheinlichkeit nach wegen Diebstahls. Deswegen war er 1937 als sogenannter ›Berufsverbrecher‹ in das Konzentrationslager Sachsenhausen gekommen«, sagt der Journalist Christ, der zwei Jahrzehnte auf Küsels Spuren forschte.

In Sachsenhausen wurde Küsel drei Jahre später auf Befehl des späteren Lagerkommandanten Rudolf Höß als einer der ersten 30 Häftlinge für das Konzentrationslager Auschwitz ausgewählt. Die 30 Häftlinge sollten als »Kapos« dienen. In der Hierarchie standen sie zwischen den SS-Mannschaften und den übrigen Häftlingen.

Von Rudolf Höß zum »Kapo« ernannt

Verschiedene Aufgaben wurden an die Kapos delegiert, die dafür Privilegien erhielten, wie beispielsweise Sonderrationen beim Essen oder eine bessere Unterkunft. Diese Annehmlichkeiten sollten sie zu einem möglichst brutalen Umgang mit ihren Mithäftlingen anstacheln.

»Die meisten der ersten 30 Häftlinge in Auschwitz folgten der Logik dieses Systems und wurden zu Sadisten. Doch Otto war anders«, schreibt Christ in seinem aufwendig recherchierten Buch »Auschwitz-Häftling Nr. 2«, das im wbg-Theiss-Verlag (Freiburg) erschienen ist.

Als »Arbeitsdienst« sollte Küsel der SS dabei helfen, die Häftlinge durch Arbeit zu vernichten. Er sollte die Arbeiten im Lager so verteilen, dass möglichst viele dadurch umkamen. Doch er tat genau das Gegenteil: Kranke und geschwächte Häftlinge schickte er zu leichten Tätigkeiten wie Kartoffelschälen und unterstützte den polnischen Lagerwiderstand, indem er half, Informationen über die Situation im Lager nach außen zu schleusen. Fluchtwillige bekamen von ihm Tätigkeiten, die ein Entkommen aus Auschwitz vereinfachten, etwa Posten außerhalb des Lagers.

Gefährlicher Spagat

Otto Küsel wagte einen gefährlichen Spagat: Er hatte Befehlen zu folgen und musste auch die harten Arbeitskommandos besetzen. Aber er nutzte seine Spielräume. »Sein Widerstand war so subtil, dass die SS ihm nicht auf die Schliche kam. Gleichzeitig war diese Form des Widerstands jedoch auch ungemein wirksam, wie viele Berichte von Auschwitzüberlebenden belegen«, sagt Christ.

2003 traf Christ bei einem Seminar den langjährigen Leiter der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Kazimierz Smolén. Smolén, der selbst viereinhalb Jahre lang Häftling in Auschwitz gewesen war, kannte Otto Küsel persönlich und erzählte »sehr lebendig und warmherzig über ihn«. Das war für Christ der Beginn seiner Recherche.

»Otto Küsel hat sehr wenige persönliche Zeugnisse hinterlassen. Deswegen hat die Recherche auch mehr als 20 Jahre gedauert. Vieles, was über Otto bekannt ist, wissen wir aus Zeitzeugenberichten. Andere Details ergaben sich erst aus dem Kontext: Wenn man viele Hundert Berichte von Überlebenden liest, bekommt man ein Bild von der ›Lagergesellschaft‹,« sagte der Autor.

Ehemaligen Mithäftlinge boten ihm aus Dankbarkeit die polnische Staatsbürgerschaft ehrenhalber an

Im Dezember 1942 flüchtete Küsel mit drei anderen polnischen Mithäftlingen aus Auschwitz, neun Monate lebte er im Untergrund, wurde aber 1943 verraten und nach Auschwitz zurückgebracht: »Er überlebte seine Wiederverhaftung, Folter, eine weitere Deportation und schließlich auch noch den äußerst brutalen Todesmarsch in Flossenbürg. Seine ehemaligen Mithäftlinge boten ihm nach dem Krieg aus Dankbarkeit die polnische Staatsbürgerschaft ehrenhalber an.« Küsel starb 1984 in Oberviechtach in der Oberpfalz mit 75 Jahren.

In Polen ist der Name Otto Küsel für viele ein Begriff, in Deutschland ist seine Geschichte recht unbekannt. Christ erklärt das damit, dass der »Häftling Nr. 2« der Gruppe der »Berufsverbrecher« angehörte, die lange in Deutschland stigmatisiert waren und erst 2020 durch den Bundestag als Opfergruppe des Nationalsozialismus anerkannt wurden.

Ein anderer Grund sei, dass Ottos Geschichte in die Frühphase des Konzentrationslagers Auschwitz fällt, in der polnische Häftlinge die Mehrheit der Gefangenen ausmachten. Diese »polnische Phase« der Lagergeschichte sei bisher in Deutschland ebenfalls wenig bekannt.

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»Otto Küsels Geschichte zeigt uns, dass man sehr viel Gutes bewirken kann, wenn man sich nicht von der eigenen Angst korrumpieren lässt. Seine Hilfe, die er unter Lebensgefahr geleistet hat, ist ein leuchtendes Beispiel für Mitmenschlichkeit in schwierigsten Zeiten«, sagt Christ. Ebenso sei es faszinierend zu sehen, wie der »Häftling Nr. 2« schon früh den wahren Charakter des NS-Systems erkannt hat - »und alles tat, was er tun konnte, um seine Mithäftlinge vor dem Schlimmsten zu bewahren.« epd

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