Geschichte

Den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben

»Die Juden kamen ja meist nur als Opferzahlen vor. Ich wollte den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben.« Für den Historiker und Schoa-Überlebenden Saul Friedländer bedeutet die Erforschung des Holocaust mehr als die Darstellung abstrakter Strukturen. »Wenn Sie die Tagebücher und Briefe der Opfer lesen, erkennen Sie deren Individualität, ihre Hoffnungen und Empfindungen.«

Friedländer hat der Holocaustforschung eine ganz neue Richtung gegeben. Für sein Lebenswerk erhielt er Anfang Juli den mit 690.000 Euro dotierten Balzan-Preis zugesprochen. Am 11. Oktober wird er 90 Jahre alt.

memoiren »Ich wurde zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt – vier Monate vor Hitlers Machtergreifung – in Prag geboren«, so beginnen die Memoiren des Kindes deutschsprachiger Juden. Anders als Raul Hilberg, der Pionier der Erforschung der Vernichtungspolitik, hat Friedländer in seinem Standardwerk Das Dritte Reich und die Juden nicht nur den mörderischen Vernichtungsapparat geschildert, sondern auch die Schicksale der Menschen berücksichtigt. Und zugleich eingeräumt, dass das Schreiben für ihn auch ein therapeutischer Prozess sei.

Als einer der letzten Miterlebenden des Holocaust unter seinen Fachkollegen hat er darüber nachgedacht, wie objektiv er selber über das Thema forschen kann. »Wie oft habe ich gehört, Juden könnten als Opfer keine objektive Geschichte des Holocaust schreiben«, hat er gesagt. Und den älteren deutschen Historikern vorgehalten, dass auch sie als ehemalige HJ- oder NSDAP-Mitglieder keineswegs objektiv über die NS-Zeit schreiben könnten.

Als Politikwissenschaftler und Historiker unterrichtete der Vater dreier Kinder in Genf, Tel Aviv und Los Angeles.

Während seine Eltern in Auschwitz ermordet wurden, überlebte er unter falschem Namen in einem Internat in Frankreich und wurde dort getauft. »Ich wurde vollgestopft mit Religion, aber im Lauf meines Lebens wurde sie zur Nebensache«, sagte er. »Das Ästhetische am Katholizismus ist mir geblieben, die Kirchenmusik, und noch wichtiger: ein Schuldgefühl.«

zionist 1946 entschloss er sich auf Anraten eines Jesuiten, wieder Jude zu sein. »Ich bin schnell nacheinander Kommunist und dann Zionist geworden und 1948 nach Israel geflüchtet«, schildert er den weiteren Lebensweg. Als Politikwissenschaftler und Historiker unterrichtete der Vater dreier Kinder in Genf, Tel Aviv und Los Angeles.

Es dauerte lange, bis er sich seiner Familiengeschichte stellte. Er sei auch Jahrzehnte später hoch traumatisiert gewesen und leide immer noch unter Depressionen, schrieb er 2016. Erst seine Kinder hätten ihm geholfen, seine Gefühle wiederzuentdecken. Auf den Holocaust als Thema kam er ausgerechnet im Bonner Archiv des Auswärtigen Amtes, wo er Dokumente über Papst Pius XII. fand.

Es dauerte lange, bis sich Friedländer seiner Familiengeschichte stellte.

Im Streit über die Ursachen für die Judenvernichtung hat Friedländer sich festgelegt: »Ich meine, dass nicht die Gesellschaft, sondern die Zentrale die treibende Kraft war, angefangen bei Hitler und seinen engsten Mitarbeitern in der Partei«, argumentiert er. Den gesellschaftlichen Eliten in Deutschland, darunter auch den Kirchen, wirft der Historiker allerdings vor, der Radikalisierung der Judenpolitik wenig entgegengesetzt zu haben. Verantwortlich dafür macht er die große Staatsfrömmigkeit der Deutschen sowie einen traditionellen religiösen Antijudaismus.

ns-politik Klare Worte findet der Historiker auch bei der Einordnung des Holocaust in die NS-Politik. Nach seiner Ansicht war die sogenannte Lösung der Judenfrage für die Nazis zentral. Zwar habe es in den 30er-Jahren auch bei Hitler noch keine endgültigen Pläne gegeben. Spätestens Ende 1941, als der Russland-Feldzug ins Stocken geriet und Amerika in den Krieg eintrat, sei die Vernichtung der Juden aber mit äußerster Konsequenz vorangetrieben worden.

Für Friedländer ist klar, dass auch der Holocaust immer weiter historisiert wird. »Irgendwann wird man Bücher über das Dritte Reich und den Holocaust lesen wie heute Cäsars Gallischen Krieg«, analysiert er. Umso energischer mischte er sich jüngst in die hitzige Debatte über einen Vergleich des Holocaust mit den Kolonialverbrechen ein. Auschwitz war aus seiner Sicht etwas völlig anderes als die kolonialen Untaten des Westens. Es ging beim Holocaust nicht um die Vernichtung von Juden als Einzelpersonen, sondern um die Vernichtung »des Juden« als »Prinzip des Bösen«. Zugleich spricht er sich dafür aus, dass die Erinnerung an die Kolonialverbrechen einen größeren Platz erhalten sollte.

Nachruf

Filmproduzent mit Werten

Respektvoll, geduldig, präzise: eine Würdigung des sechsfachen Oscar-Preisträgers Arthur Cohn

von Pierre Rothschild  15.12.2025

Meinung

Xavier Naidoos antisemitische Aussagen? Haken dran!

Der Mannheimer Sänger füllt wieder Konzertsäle. Seine Verschwörungserzählungen über Juden und holocaustrelativierenden Thesen scheinen kaum noch jemanden zu stören

von Ralf Fischer  15.12.2025

Los Angeles

Bestürzung über Tod von Rob Reiner und Ehefrau Michele

Der jüdische Regisseur und seine Frau wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei behandelt den Fall als mögliches Tötungsdelikt

 15.12.2025

Justiz

Gericht: Melanie Müller zeigte mehrmals den Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was im Berufungsverfahren zur Debatte steht

von André Jahnke  14.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  14.12.2025

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

von Christiane Oelrich  12.12.2025

Computerspiel

Lenny Kravitz wird James-Bond-Bösewicht

Als fieser Schurke will der Musiker im kommenden Jahr dem Agenten 007 das Leben schwer machen – allerdings nicht auf der Kinoleinwand

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Aufgegabelt

Latkes aus Dillgürkchen

Rezepte und Leckeres

 12.12.2025