Mentalitätswechsel

Aus das Trauma

Kämpferische Tradition: ein jüdischer Veteran der Sowjetarmee in Berlin mit jungen Fans am »Tag des Sieges« Foto: Marco Limberg

Berlin, Reichstag. Hunderte Menschen stehen an, um die Glaskuppel auf dem Dach des Parlaments zu besichtigen. Die Schlange kommt nur langsam voran. Eine junge Frau, russischstämmige Jüdin, sagt zu ihrer Begleiterin sarkastisch: »Mein Opa ist 1945 hier schneller reingekommen.«

Die Begebenheit hat mir eine Bekannte erzählt. Wenn sie nicht wahr ist, dann ist sie gut erfunden. Denn diese Anekdote steht für einen grundlegenden Mentalitätswechsel unter den Juden hierzulande.

verlierer Fast fünfzig Jahre lang war die jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine Gemeinschaft von Opfern. Die Gemeinden wurden aufgebaut von Überlebenden der Schoa, die meisten aus Osteuropa stammend. Es waren Entwurzelte, die nach der Befreiung im Land der Täter hängen geblieben waren. »Sche’erit ha-Pletah« – der Rest der Geretteten – nannten sie sich manchmal nach Esra 9. Ihr zentraler Bezugspunkt zueinander und zu ihrer Umgebung war, wie sollte es anders sein, die Katastrophe. Auschwitz war vielleicht kalendarisch vergangen; im Bewusstsein war es allgegenwärtig.

Das prägt bis heute das Denken und Fühlen auch der Kinder und manchmal selbst der Enkel. Das »Second-Generation-Syndrome« mag psychiatrisch eine Schimäre sein; mental ist es eine Realität. Man definiert sich über den Holocaust. In Publikationen, politischen Debatten, selbst beim Small Talk ist er präsent. Angesichts der familiären Hintergründe ist das wahrscheinlich unvermeidbar. Gesund ist es nicht. Wenn Jugendliche »Opfer« als Schimpfwort benutzen, liegen sie nicht völlig falsch. Opfersein bedeutet Erniedrigung, Ohnmacht, Scham – nicht gerade Faktoren, aus denen Selbstwertgefühl erwächst. Auch nicht, wenn die Opfer ihre Rolle kultivieren und sich zu einer Art »Beautiful Losers« überhöhen. Verfolgung und Leiden mögen guten Stoff für – nicht zufällig bei Nichtjuden populäre – traurige jiddische Lieder und bewegende Romane abgeben. Den Verlust an Würde und Selbstbewusstsein können sie nicht aufwiegen.

kämpfer Zum Glück prägt diese Mentalität inzwischen nur noch eine Minderheit der deutschen Juden. Das verdanken wir der Zuwanderung. Mehr als achtzig Prozent der Gemeindemitglieder stammen heute aus der früheren Sowjetunion. Und sie definieren sich nicht primär als Opfer. Gewiss, die Schoa erlitten haben auch die Juden in der UdSSR. Dennoch ist ihr Bild der Jahre 1941 bis 1945 ein anderes als das der übrigen europäischen Juden. Sie definieren diese Jahre als Zeit des Kampfes, nicht bloß des passiven Abgeschlachtetwerdens. Als Rotarmisten aller Ränge, vom Kanonier bis zum General, begegneten sowjetische Juden den Deutschen mit der Waffe in der Hand.

Natürlich steckt in diesem Narrativ ein gutes Stück Mystifizierung. Die Realität war ungleich komplexer. Millionen sowjetische Juden sind, wie die anderer Länder auch, der deutschen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer gefallen. Und jüdische Sowjetarmisten hatten oft genug mit Antisemitismus in den eigenen Reihen zu kämpfen. Doch in der Erinnerungskultur der Zuwanderer dominiert nicht das jüdische Leidensbild, sondern die Heldengeschichte. Wenn am 9. Mai, zum »Tag des Sieges«, in deutschen jüdischen Gemeinden ordensgeschmückte alte Männer und Frauen sich in Sowjetmanier feiern, mag das »Alteingesessene« befremden. Bestenfalls finden sie es vielleicht pittoresk. Aber jenseits bloßer Nostalgie manifestiert sich hier eine Mentalität, die mancher aus der »Opferecke« heimlich beneidet: Seht her, wir sind nicht bloß Überlebende. Wir sind die Sieger der Geschichte.

normalität Dieses Bewusstsein haben die Veteranen an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Nicht als tragische Leidensgestalten erscheinen in ihren Familiengeschichten die Großväter, sondern als wehrhafte Kämpfer. Solche Vorbilder hatten die »Alteingesessenen« nicht. Sie mussten sie importieren. Den »neuen«, »starken« Juden fand man in Israel. Die Zuwanderer haben ihn in der eigenen Familie. Das schafft eine völlig andere Identität als die, die fast ein halbes Jahrhundert lang die jüdische Gemeinschaft in Deutschland geprägt hat.

Dieser Mentalitätswechsel macht vielleicht auch endlich möglich, was oft eingefordert, doch bisher nicht verwirklicht werden konnte: jüdische Normalität in Deutschland. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden hierzulande nach 1945 war eine Symbiose aus Trauma und Schuld. Das Grauen der Vernichtung verband beide Seiten wider Willen, aber unauflöslich, bei klarer Rollenverteilung: die einen als Täter, die anderen als Opfer. Ein solches Verhältnis kann nicht unbefangen sein. Im besten Fall ist es bemüht. Die Zuwanderer und ihre Kinder aber können, weil sie sich nicht allein als Opfer definieren, der nichtjüdischen Umgebung entspannt gegenübertreten, ohne historisches Gepäck. Sie haben keine offenen Rechnungen mehr. Die sind beglichen worden, als die Sowjetarmee den Reichstag in Berlin erstürmte.

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025

Medien

»Die Kritik trifft mich, entbehrt aber jeder Grundlage«

Sophie von der Tann wird heute mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt. Bislang schwieg sie zur scharfen Kritik an ihrer Arbeit. Doch jetzt antwortete die ARD-Journalistin ihren Kritikern

 04.12.2025

Antisemitismus

Schlechtes Zeugnis für deutsche Schulen

Rapper Ben Salomo schreibt über seine Erfahrungen mit judenfeindlichen Einstellungen im Bildungsbereich

von Eva M. Grünewald  04.12.2025

Literatur

Königin Esther beim Mossad

John Irvings neuer Roman dreht sich um eine Jüdin mit komplexer Geschichte

von Alexander Kluy  04.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter, Imanuel Marcus  04.12.2025

Show-Legende

Mr. Bojangles: Sammy Davis Jr. wäre 100 Jahre alt geworden

Er sang, tanzte, gab den Spaßmacher. Sammy Davis Jr. strebte nach Erfolg und bot dem Rassismus in den USA die Stirn. Der Mann aus Harlem gilt als eines der größten Showtalente

von Alexander Lang  04.12.2025

Preisvergabe

Charlotte Knobloch kritisiert Berichterstattung von Sophie von der Tann

Dass problematische Berichterstattung auch noch mit einem Preis ausgezeichnet werde, verschlage ihr die Sprache, sagt die Präsidentin der IKG München

 04.12.2025

Philosophie

Drang zur Tiefe

Auch 50 Jahre nach ihrem Tod entzieht sich das Denken Hannah Arendts einer klaren Einordnung

von Marcel Matthies  04.12.2025

Kulturbetrieb

»Wie lange will das politische Deutschland noch zusehen?«

Der Bundestagskulturausschuss hörte Experten zum Thema Antisemitismus an. Uneins war man sich vor allem bei der Frage, wie weit die Kunstfreiheit geht

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025