Österreich

Zurück an der Ringstraße

»Meine Rache an Hitler«: Erika Freeman (93) im noblen Hotel »Imperial« an der Wiener Ringstraße Foto: Peter Bollag

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Zurück an der Ringstraße

Als Kind musste Erika Freeman vor den Nazis aus Wien fliehen. Vor einigen Jahren kam sie zurück und pendelt heute zwischen New York und ihrer alten Heimat

von Peter Bollag  24.01.2021 11:18 Uhr

So geschliffen sich Erika Freeman in ihren zahlreichen Interviews auf Englisch ausdrücken mag, so sehr fällt auf, wenn sie plötzlich ins Wienerische wechselt. Das passiert dann, wenn die stets gut gekleidete, temperamentvolle Frau ihre Jugendjahre beschreibt.

Sie erzählt auf Englisch, wie sie nach dem »Anschluss« 1938 aufs Jüdische Gymnasium ging, wo es nach dem Unterricht galt, auf der Hut zu sein vor den Gleichaltrigen, der Hitlerjugend, »die uns ständig auflauerte, um uns zu verprügeln«. Dass sie das letzte Wort des Satzes auf Deutsch und nicht auf Englisch sagt, erscheint fast logisch. Gewalt war damals Alltag.

Gefahr Die religiös-zionistischen Eltern erkennen die Gefahr und versuchen, ihr Kind – es ist das einzige – zu retten: Sie schicken die Zwölfjährige nach Amsterdam und von da aus weiter in die USA. Dort wird sie bei entfernten Verwandten leben und zunächst vor allem einmal Englisch lernen.

Das junge Mädchen, das damals Erika Polesciuk heißt, tritt die große Reise alleine an. Die Eltern sind inzwischen von den Nazis verhaftet worden. Ihre Mutter Rachel aber kann entkommen und lebt fortan als sogenanntes U-Boot in Wien. Sie habe es geschafft, versteckten jüdischen Kindern Hebräischunterricht zu geben, sei die erste Hebräischlehrerin in Wien überhaupt gewesen, erzählt Erika Freeman. »Die Geschichte meiner Mutter hat Isaac Bashevis Singer als Vorbild für seine Erzählung Yentl genommen«, sagt sie voller Stolz.

Doch im April 1945, bei einem der letzten Bombenangriffe der Alliierten auf Wien, kommt die Mutter ums Leben, nicht allzu weit entfernt von Erika Freemans heutiger Wiener Wohnung.

In Amerika wurde sie Psychoanalytikerin und behandelte Filmstars.

Auch ihren Vater, Antschel Polesciuk, der zeitweilig Außenminister einer sozial­demokratischen »Schattenkabinetts-Regie­rung« im Exil ist, hält die junge Erika für tot. Doch eines Tages stößt ihr Onkel, der wie sie inzwischen in New York lebt, bei einem Broadway-Spaziergang auf seinen Bruder, Erikas Vater. »Was machst du denn hier?«, begrüßt er ihn. »Du bist doch tot.«

Erikas Vater, der seine Freilassung aus dem KZ Theresienstadt einer Intervention des schwedischen Konsuls zu verdanken hat, ist ebenso verblüfft wie sein Bruder. »Wie du siehst, lebe ich. Aber meine Frau und meine Tochter sind tot, ermordet!« »Nein«, sagt der Onkel, »deine Tochter lebt! Hier in New York!«

Außergewöhnlich sei, dass sich dies ausgerechnet an Jom Kippur ereignet hat, sagt Erika Freeman. »Gott ist sehr geduldig mit uns, das beweist diese Geschichte. Auch wenn man an seinem höchsten Feiertag spazieren geht, statt in der Synagoge zu beten, tut er solche Wunder!«

DIPLOMATIE Ebenso außergewöhnlich ist die Frage, die Antschel Polesciuk, der später in Schweden leben wird, seiner Tochter praktisch als Erstes stellt, als sie sich kurz danach nach mehr als sechs Jahren wiedersehen: »Was liest du denn gerade?« Ein Intellektueller bleibt eben ein Intellektueller.

Nach diesem »Familienwunder« konzentriert sich die junge Frau vor allem auf ihre Ausbildung. Sie hat Verwandte im neu gegründeten Staat Israel und will in den diplomatischen Dienst. »Der spätere israelische Ministerpräsident und Außenminister Mo­she Sharett hatte mich mehrmals zur UNO mitgenommen, wenn er hier in New York war«, erzählt sie. »Das fand ich unglaublich spannend.«

Doch dort, am East River, trifft sie zahlreiche Diplomaten und Politiker, die ihr bald Angst machen. »Sie benahmen sich derart schlecht, brüllten herum, drangsalierten ihre Mitarbeiter!«

Die NS-Zeit in Wien vor Augen, denkt sie: »Man muss sie heilen, sonst stürzt der eine oder andere die Welt wieder ins Unglück.« Aus diesem Gedankengang heraus fasst sie den Entschluss, nicht Diplomatin zu werden, sondern Psychoanalytikerin.

Auch Golda Meir und Hillary Clinton ließen sich oft von ihr beraten.

Bald wird ihre Praxis eine gefragte Adresse sein, Hollywood-Größen wie Marlon Brando, Woody Allen oder Marilyn Monroe legen sich auf ihre Couch und vertrauen ihr ihre Probleme an. Doch Erika Freeman hält sich eisern an ihr Prinzip: »Über Freundinnen und Freunde spreche ich nicht.« Um es hin und wieder dann doch zu tun – ohne allerdings persönliche Dinge zu verraten.

Freundin Umso lieber erzählt sie von Golda Meir, der ersten und bisher einzigen Ministerpräsidentin Israels. Die ließ sich jahrelang von Freeman beraten und habe oft auch spätabends noch angerufen, um sich von ihrer Freundin »Etzes«, Ratschläge, zu holen, etwa vor einem Amerikabesuch bei Präsident Nixon.

Nicht anders war es viele Jahre später mit Hillary Clinton. »Vor der Präsidentschaftswahl 2016 mussten wir unsere Freundschaft aber auf Eis legen«, erzählt Freeman. Denn die Furcht der Demokraten sei groß gewesen, Trump könnte es ausnutzen, dass Clinton in ihrem nahen Umfeld eine Psychiaterin hat. »Er hätte dann sicher behauptet, sie sei verrückt.«

Dass die Psychoanalytikerin schließlich wieder nach Wien zurückgekehrt ist, die Stadt, aus der sie Jahrzehnte zuvor fliehen musste, hätte sie sich nie träumen lassen. Es sei dem Zeitgeschichtsprojekt »A letter to the stars« zu verdanken, bei dem Schoa-Überlebende in Wiener Schulen von ihrem Schicksal erzählen. Erika Freeman nahm daran teil – und bereute es nicht.

Inzwischen ist ihre alte Heimat zu einer Art Zweitwohnsitz neben New York geworden. Manchmal steigt die 93-Jährige im noblen Hotel »Imperial« an der Ringstraße ab. »Das ist meine persönliche Rache an Hitler, der ja auch einmal hier gewohnt hat.«

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