Polen

Wie sich jüdische Männer, Frauen und Kinder zur Wehr setzten

Die Ausstellungsmacher entdeckten neue Fotos, wie hier von Maciej Grzywaczewski und Zuzanna Schnepf-Kołacz. Foto: M. Jazwiecki / Muzeum Historii Zydów Polskich

Auf dem großen Denkmal für die Helden des Warschauer Ghetto-Aufstands von 1943 sind alle Kämpfer bewaffnet. Sie halten Granaten, Molotowcocktails, Gewehre und Revolver in den Händen. Eine Jüdin, die versucht, ein Kleinkind aus den Flammen zu retten, stürmt nach vorn – wie die Freiheitskämpferin Jeanne d’Arc in dem Gemälde von Eugène Delacroix.

Sie gibt die Interpretation vor: Der Aufstand vor genau 80 Jahren war ein Freiheitskampf. Auf der Rückseite des großen Denkmals zeigt ein Flachrelief Kinder, Frauen, einen Rabbiner mit Torarolle, gebückt gehende Alte und im Hintergrund wieder Flammen und Helme von Wehrmachtssoldaten.

helden »Gang in die Vernichtung« heißt das Relief. Doch für den Künstler Natan Rapaport waren auch die Zivilisten Helden. Ihr Widerstand bestand darin, möglichst lange zu überleben, sich vor den Nazi-Schergen zu verstecken und – sollte es eine Chance zur Freiheit geben – diese zu ergreifen und auf die andere Seite des Ghettos zu fliehen.

Zum 80. Jahrestag widmet das jüdische Geschichtsmuseum Polin diesem zivilen Widerstand die große Ausstellung Um uns herum ein Flammenmeer. Die Schicksale jüdischer Zivilisten im Warschauer Ghetto-Aufstand. Autorin ist Barbara Engelking (60), die führende Holocaust-Forscherin Polens. Seit knapp 20 Jahren steht sie an der Spitze eines Forscherteams, das die Schoa im deutsch besetzten Polen auf eine ganz eigene Weise erforscht – interdisziplinär und aus der Perspektive der Opfer.

»Mit der Waffe in der Hand kämpften nur rund 1000 Juden und Jüdinnen. Denn es gab viel zu wenige Waffen«, erklärt Engelking. »Die rund 50.000 Menschen, die im April 1943 von den einst über 450.000 Juden im Warschauer Ghetto noch am Leben waren, leisteten aber erheblichen zivilen Widerstand. Das wurde in der bisherigen Forschung oft übersehen.«

verstecke Schon Monate vor dem eigentlichen Ausbruch des Aufstands hatten sich die meisten Juden Verstecke gesucht – oft in Bunkern, Kellern und Kanälen. Sie hatten sich Essens- und Trinkvorräte angelegt, sorgten auch für eine Kochstelle, wo weder das offene Feuer noch Rauch das Versteck verraten durfte.

Schon Monate vor dem eigentlichen Ausbruch des Aufstands hatten sich die meisten Juden Verstecke gesucht.

»Die meisten hofften auf ein Weiter­leben nach dem Krieg. Das wissen wir aus Briefen und Tagebucheintragungen«, erklärt die Chefin des Zentrums zur Erforschung des Holocaust an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. »In der Ausstellung zeigen wir ihren erbitterten Überlebenskampf. Er war auch immer wieder ein Ansporn für die bewaffneten Kämpfer und Kämpferinnen im Ghetto.«

Der zivile Widerstand im Ghetto stand in der Vergangenheit nur selten im Mittelpunkt des Interesses. »Wir mussten ihn für die Ausstellung nicht vollständig neu erforschen«, so Engelking. »Aber wir haben in den vergangenen drei Jahren jedes Tagebuch, das in einem Warschauer Ghetto-Bunker geschrieben wurde, erneut gelesen und versucht, mehr über die näheren Umstände seines Entstehens und über die Autoren herauszubekommen.«

Das sei auch gelungen. »Das Interessanteste sind Fotos aus dem Ghetto, die nicht von deutschen SS-Männern oder Wehrmachtssoldaten gemacht wurden, sondern von Polen«, erläutert die Psychologin und Soziologin. »Diese Fotos zeigen eine andere Perspektive.«

Verlag Vor gut 20 Jahren veröffentlichten Barbara Engelking und Jacek Leociak das Ergebnis ihrer bisherigen Forschungen: Das Warschauer Ghetto. Ein Führer durch eine nicht mehr existierende Stadt. In einem Beipack steckte ein knappes Dutzend ausklappbare Karten. Das Buch gilt heute als Standardwerk und wurde auch ins Englische übersetzt. Für eine deutsche Ausgabe fand sich bislang kein Verlag.

»Wir bereiten gerade die dritte Auflage vor«, sagt Engelking. »Denn wir konnten in den vergangenen Jahren durch archäologische Arbeiten und neu aufgetauchte Quellen offene Fragen zum Verlauf der Ghetto-Grenzen klären.« Außerdem wisse man heute wesentlich mehr über die Jüdische Soziale Selbsthilfe, eine der wichtigsten jüdischen Organisationen im Ghetto, sowie über das Leben im Ghetto, die schwindende Hoffnung auf ein Überleben, die Kontakte nach draußen, Hilfsleistungen durch Polen, aber auch Erpressung und Verrat.

»Für viele Geschichtsinteressierte wird überraschend sein, dass das Warschauer Ghetto keineswegs am 16. Mai 1943 aufhörte zu existieren, wie der deutsche Kriegsverbrecher Jürgen Stroop offiziell verkündete. Vielmehr versteckten sich Überlebende auf dem Ghetto-Gelände noch mindestens sieben Monate lang – bis zum Januar 1944«, erläutert Engelking. »Das sind unsere Helden und Heldinnen.«

»Was uns nicht interessiert, sind die Täter.«

Historikerin Barbara Engelking

Auch Krystyna Budnicka, die elf Jahre alt war, als am 19. April 1943 der Ghetto-Aufstand begann und die auch den Warschauer Aufstand 1944 überlebte, gehört dazu. »Ihr Überlebenswille, der aus all ihren Erzählungen spricht, ist immer wieder beeindruckend«, so Engelking.

bunker Budnicka, die vor dem Krieg Hena Kuczer hieß, verlor ihre ganze Familie – die Mutter Cyrla, den Vater Józef Lejzor, die Schwester Perla und die Brüder Izaak, Boruch, Szaja, Ruben, Chaim und Jehuda. Aus dem Bunker an der Zamenhof-Straße, ganz in der Nähe des heutigen Museums Polin, konnten sich von den zunächst 30 Versteckten nur sie und ihre Cousine Anna retten. Als die Deutschen das Ghetto Haus für Haus abfackelten und auch ihr Keller glutheiß wurde, meisterten sie den tagelangen Weg durch die Kanäle.

Auf der anderen Ghetto-Seite half ihnen die polnisch-jüdische Organisation Zegota, ein neues Versteck und später weitere Verstecke zu finden. Es war wohl auch Zegota, die für Kost und Logis bei christlichen Polen bezahlte.

Während Anna nach dem Krieg nach Israel emigrierte, blieb Hena in Polen. Als Krystyna Budnicka lebt sie bis heute hochbetagt in Warschau. Auch am 80. Jahrestag des Aufstandes wird sie im Museum Polin wieder ihre Geschichte erzählen.

täter »Was uns nicht interessiert, sind die Täter«, erklärt Engelking. »Das geht so weit, dass wir uns bemühen, möglichst keine von den Deutschen gemachten Fotos aus dem Ghetto zu zeigen.« Über viele Jahre habe sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, die Opfer mit den Augen der Täter zu sehen, weil es kaum andere als diese meist inszenierten Propagandabilder gab. »Diese erneute Viktimisierung der Opfer hat uns schon immer gestört.«

Während der Arbeit zur Ausstellung sei es gelungen, neue, bisher unbekannte Fotos zu finden, die von Polen gemacht wurden, sagt Engelking. »Wir hoffen, dass in den nächsten Jahren weitere Fotos aus dem Ghetto auftauchen werden, vielleicht sogar Bilder, die Juden und Jüdinnen aus ihren Verstecken heraus machen konnten.«

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