Frankreich

Nicht ohne meine Kippa

Anders als dieser Mann verstecken viele ihre Kippa inzwischen unter einer Baseballkappe oder einem Hut. Foto: dpa

Frankreich

Nicht ohne meine Kippa

Ein Land diskutiert, ob sich Juden in der Öffentlichkeit zu erkennen geben sollen

von Bernard Schmid  18.01.2016 19:16 Uhr

Der Angreifer wollte töten – und das Opfer sucht bis heute nach Erklärungen dafür, warum jemand »im Alter von 15 Jahren eine Lust zu töten verspürt«. Ein Schüler türkisch-kurdischer Abstammung attackierte am Montag vergangener Woche in Marseille einen 35-jährigen Lehrer auf offener Straße. Benjamin Amsellem, das Opfer, unterrichtet jüdische Religion an einer orthodoxen Schule im Stadtteil Saint-Tronc. Dort leben viele Juden, das Viertel gilt als ruhig und ist kein sozialer Brennpunkt.

Benjamin Amsellem trug eine Kippa. Mit einem langen Messer, das in den Medien auch als »Machete« bezeichnet wurde, näherte sich der jugendliche Angreifer und schlug dem Lehrer zuerst mit der flachen Klinge auf den Rücken. Amsellem konnte sich mit den Füßen wehren. Doch vor allem einem Tora-Buch, das er schützend vor sich hielt, bewahrte ihn vor schlimmeren Verletzungen, denn es fing die gegen ihn gerichteten Messerstiche ab. Mit relativ geringen Verletzungen am Rücken kam Amsellem davon.

Mofas Der Jugendliche sprach bei dem Angriff kein Wort. Als Passanten und Anwohner eingriffen, rannte er davon. Augenzeugen verfolgten ihn auf Mofas, während sie die Polizei anriefen. Die konnte den Teenager schnell fassen. Zur Rede gestellt, bekannte er sich lautstark dazu, im Namen des sogenannten Islamischen Staates (IS) gehandelt zu haben. Später sagte er, sobald er aus der Haft entlassen werde, wolle er sich eine Waffe besorgen und auf Polizisten schießen.

Der Jugendliche ist weder im engeren Sinne psychisch krank, noch war er der Polizei bislang für anderweitige Straftaten oder Kontakte zur dschihadistischen Szene bekannt. Er gilt als guter Schüler. Man vermutet, er habe sich vor allem im Internet mit islamistischer Ideologie vollgesogen.

Hut Das brutale Verbrechen – es war der dritte Messerangriff seit Oktober – hat in Frankreichs jüdischer Gemeinde eine Debatte ausgelöst. Zvi Ammar, der Leiter des religiösen jüdischen Dachverbands Consistoire Israélite de Marseille, forderte, in der Öffentlichkeit auf das Tragen von Kippot zu verzichten. Viele praktizierende Juden sind seitdem tatsächlich dazu übergegangen, ihre Kippa unter einer Baseballkappe oder einem Hut zu verstecken. Benjamin Amsellem, der nach dem Messerangriff von seinem Arbeitgeber beurlaubt wurde, um sich von den Folgen zu erholen, trägt inzwischen eine Golfmütze über seiner Kippa.

Ähnliche Aufrufe von jüdischen religiösen Einrichtungen hatte es bereits früher gegeben, etwa 2003 vom damaligen Pariser Großrabbiner Joseph Sitruk. In jenen Jahren kam es vor allem in großstädtischen sozialen Brennpunkten immer wieder zu Übergriffen.

Die Regionalpräsidentin der jüdischen Dachorganisation CRIF, Michele Teboul, widersprach jedoch Ammar. Sie erklärte, der Verzicht auf die Kippa bedeute, »aufzuhören, jüdisch zu sein«, und würde »das Rad der Geschichte um Hunderte Jahre zurückdrehen«. Auch Frankreichs Oberrabbiner Haïm Korsia hält nichts davon, auf die Kippa zu verzichten. Prominente aus Sport, Kunst und Politik erklärten, es sei unerträglich, wenn sich Juden aus Furcht vor Angriffen verstecken müssten. Sie forderten, Nichtjuden sollten symbolisch aus Solidarität ebenfalls eine Kippa tragen.

Auch Präsident François Hollande und Premier Manuel Valls erklärten, es gehe nicht an, dass Menschen ihre Religion nur mit »gesenktem Haupt« leben könnten.

Fussball Am Mittwoch (nach Redaktionsschluss) wollen Tausende Fußballfans des Marseiller Clubs Olympique de Marseille Kippot im Stadion ihrer Stadt tragen, anlässlich einer Begegnung mit einem Verein aus Montpellier. Auch der englische Fußballer David Beckham setzte sich vor Kurzem symbolisch eine Kippa auf. Viele andere VIPs stellten Fotos, auf denen sie mit Kippa zu sehen sind, ins Internet. Und zwei Abgeordnete der französischen Nationalversammlung, der Liberalkonservative Meyer Habib und der Konservative Claude Goasguen, ein Jude und ein Nichtjude, setzten sich in der Eingangshalle des Parlaments eine Kippa auf. Im Plenarsaal legten sie diese allerdings ab, um Kritik vorzubeugen, die eine Verletzung der laizistischen französischen Staatsdoktrin moniert hätte.

Hinter vorgehaltener Hand und auch offen gibt es aber auch Kritik an derlei Aktionen. So meint der bekannte jüdische Journalist Claude Askolovitch, das Judesein dürfe nicht auf eine Kippa reduziert werden, denn viele nichtorthodoxe Juden trügen keine. Er selbst fühle sich vor allem »als gleichwertiger Bürger dieser Republik« und nicht zuerst als Teil einer durch sichtbare Religionsausübung definierten Gemeinschaft. Die Beziehung oder Nichtbeziehung zu Gott sei in erster Linie Privatsache.

Statistik Jüngste Zahlen belegen, dass im Jahr 2015 in Frankreich insgesamt 719 verbale und körperliche Angriffe auf Juden verübt wurden. Das waren zwar etwas weniger als im Jahr zuvor (743), doch machten sie 51 Prozent aller als rassistisch eingestuften Straftaten im Land aus.

Eine Umfrage ergab jedoch, dass die Mehrheit der französischen Bevölkerung Juden als gleichwertigen Bestandteil der Gesellschaft ansieht. Laut einer Studie der Menschenrechtskommission CNCDH betrachteten im Jahr 2014 nur 27,4 Prozent der Befragten Juden als »gesonderte Gruppe«, 2003 waren es noch 38,3 Prozent.

Doch der Befund kann nicht beruhigen: Im September 2015 erklärten 43 Prozent der vom Institut IFOP befragten männlichen Juden, bisher mindestens einmal angegriffen worden zu sein, weil sie Juden sind. Unter Kippaträgern waren es – wohlgemerkt – 77 Prozent.

Porträt der Woche

Historikerin aus Leidenschaft

Shiran Shasha forscht zu antiken Gärten und sammelt Geld für eine Synagoge auf Kreta

von Gerhard Haase-Hindenberg  03.08.2025

Frankreich

Sie feierte den 7. Oktober - und bekam doch ein Stipendium

Eine 25-jährige Palästinenserin wurde aus Gaza nach Frankreich gebracht, wo sie einen Master-Studiengang absolvieren sollte. Doch dann wurden ihre antisemitischen Posts auf X bekannt

von Michael Thaidigsmann  01.08.2025

Justiz

Jüdische Organisationen fordern von Israel Gesetz gegen weltweiten Antisemitismus

In einem Brief an Justizminister Yariv Levin verlangen sie, das Judenhass und die Verfolgung israelischer Soldaten auch außerhalb Israels unter Strafe gestellt werden

 01.08.2025

Nach Festnahme bei Festival

Belgische Staatsanwälte treten Ermittlungen gegen Israelis ab

Zwei Soldaten waren in Belgien festgenommen und verhört worden, bevor sie wieder frei kamen. Jetzt haben die Ermittler den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof übergeben

 31.07.2025

Vor 100 Jahren

Als der Ku-Klux-Klan durch Washington marschierte

Vor 100 Jahren sahen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus anders aus als heute in der Ära Trump: Im August 1925 versammelte sich der Ku-Klux-Klan zu seinem größten Aufmarsch in der US-Hauptstadt Washington

von Konrad Ege  31.07.2025

Jemen

Eine der letzten Jüdinnen Jemens geht nach Israel

Mit Badra Ben Youssef hat ein letztes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft den Jemen verlassen. Möglicherweise ist nur noch ein Jude im Land, ein Gefangener der Huthi-Rebellen

 31.07.2025

USA

Von Sammlern und Buchschmugglern

Das YIVO in New York feiert sein 100-jähriges Jubiläum mit einer Sonderausstellung. Das Institut bewahrt die jiddische Kultur und pflegt ein beeindruckendes Archiv. Ein Besuch

von Jörn Pissowotzki  31.07.2025

Spanien/Frankreich

Was geschah an Bord von Flug VY 8166?

Nach dem Auschluss jüdischer Jugendlicher von einem Flug erheben französische Minister schwere Vorwürfe gegen die spanischen Behörden und die Fluggesellschaft Vueling

von Michael Thaidigsmann  30.07.2025

Longevity

Für immer jung?

Die ZDF-Moderatorin Andrea Kiewel outet sich als Hypochonderin und beschreibt, warum man niemals zu alt ist, sich Gedanken übers Älterwerden zu machen

von Andrea Kiewel  29.07.2025