Brasilien

Kongress an der Copacabana

Zum Auftakt gab es ein Geschenk mit Geschichte. Die »Religiöse Vereinigung der Israeliten von Rio de Janeiro« (ARI), die gastgebende Gemeinde des 37. Internationalen Kongresses der World Union for Progressive Judaism (WUPJ), überreichte im Großen Israelitischen Tempel der Stadt eine Torarolle an die neueste WUPJ-Mitgliedsgemeinde in China: die liberale Gemeinde »Kehilat Shanghai«.

Die chinesische Hafen- und Industriestadt war nach 1938 der letzte offene Zufluchtsort für Juden aus Deutschland und Österreich vor der Naziverfolgung. Nun wird eine Torarolle, die einst deutsche Juden auf ihrer Flucht nach Brasilien mitgenommen hatten, in Shanghai zu neuem jüdischen Leben beitragen.

Delegierte Zum ersten Mal tagte der internationale Kongress der World Union for Progressive Judaism in Brasilien. Vom 13. bis 16. Mai trafen sich mehr als 300 Delegierte an der Copacabana, um an dem alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Treffen von Gemeinden der jüdischen Reformbewegung, der liberalen Strömung und des rekonstruktionistischen Judentums teilzunehmen. Eine knappe Mehrheit von ihnen kam aus Lateinamerika. Eine Gemeinde hatte sich erst wenige Tage zuvor im südbrasilianischen Parana konstituiert. Die Konferenzbeiträge wurden deshalb auf Portugiesisch und Spanisch übersetzt.

Alle Kontinente seien vertreten gewesen, berichten die Organisatoren der World Union. Die Kongressteilnehmer seien aus 27 Ländern und 90 Städten angereist, um als Gäste der aus mehr als 900 Familien bestehenden liberalen jüdischen Gemeinde von Rio de Janeiro zu lernen, zu diskutieren und zu feiern. Übrigens eine Gemeinde, die ihre Wurzeln im deutschen Judentum hat, aber heute, wie sie selbst sagt, eine »erfrischende Mischung« aus aschkenasischen und sefardischen Juden sowie zum Judentum Konvertierten aufweise.

Mit zwei Rabbinern und zwei Kantoren verfügt sie tatsächlich über gute Voraussetzungen, sich weiter zu entwickeln. Ein Workshop unter Leitung von Rabbinern aus Kanada, Neuseeland, den USA und Chile war sich einig: Ob kleinen Gemeinden das Überleben gelänge, hänge von einem gut funktionierenden Vorstand ab. Rabbiner einer solchen Gemeinde sollten stets für Gespräche, Ratschläge und Unterstützung zur Verfügung stehen, aber zugleich eine gewisse Distanz wahren. Werden sie dagegen in interne Streitereien hineingezogen, werde es schwer für sie, ihr Ansehen zu wahren und nötige Impulse für die Gemeindeentwicklung zu geben.

Wahlen Zur ersten Amtshandlung des Kongresses gehören traditionell Vorstandswahlen. Vorsitzende des internationalen Dachverbandes ist nun Carole Sterling, eine Kanadierin aus Toronto, die schon in der amerikanischen »Union for Reform Judaism« eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Vorsitzende der »Union progressiver Juden in Deutschland«, Sonja Guentner, wurde mit überwältigender Mehrheit in den geschäftsführenden Vorstand gewählt.

Auf Initiative des Genfer Rabbiners Francois Garai beschlossen die Kongressteilnehmer einmütig eine Empfehlung an die Mitgliedsgemeinden, künftig nicht mehr vom »Holocaust« zu sprechen. Das griechische Wort »Holocaust« habe mit einem sakralen Brandopfer zu tun, während »Schoa« bezeichne, was während des Zweiten Weltkriegs tatsächlich mit dem europäischen Judentum geschah, nämlich völlige Zerstörung.

Einstimmung »Simcha, Soul and Solidarity« – Freude, Seele und Solidarität versprach danach das Motto der Tagung am Zuckerhut. Zu der freudigen Einstimmung der Seelen trugen unter anderem zwei Künstler bei, die der in New York erscheinende »Forward« vor Jahresfrist »Prinz und Prinzessin der jüdischen Musik« genannt hat. Beide sind aber seit einiger Zeit privat und musikalisch verbandelt: der im amerikanischen Reformjudentum aufgewachsene und engagierte Musiker Josh Nelson und die Sängerin Neshama Carlebach, Tochter von Rabbi Shlomo Carlebach (1925–1994). In einem Workshop zum »Klang von Licht« übten sie mit den Teilnehmern einige musikalische Ausdrucksformen.

Singen habe viel mit Rhythmus, Gefühl und Zuwendung zu tun, betonten sie, und eben auch mit Gebet. Ihr gemeinsamer eigener Stil ist eine Melange aus den Einflüssen ihrer beiden Mentoren, der reformjüdischen Song-Ikone Debbie Friedman (1951–2011) und dem berühmten singenden orthodoxen Rabbiner.

Afroreggae Dass Klänge eine befriedende Wirkung entfalten können, erlebte ein Teil der Delegierten am Freitagnachmittag. Für vier Stunden fuhren sie in eine der Armensiedlungen Rios. In der von 7000 Menschen bewohnten »Vigario Geral Favela« nahmen sie an einem Perkussions-Workshop teil.

Es war einer von vielen kostenlosen Musikkursen, die das Projekt »Afroreggae« in der Favela anbietet. Immerhin 370 Personen im Alter von sechs bis 80 Jahren würden es in Anspruch nehmen, erfuhr die Gruppe. Die besten Trommler Lateinamerikas würden hier mittlerweile ausgebildet.

Noch vor einigen Jahren galt das Viertel als eines der gefährlichsten der Zwölf-Millionen-Metropole. Die Stadtverwaltung hat wenig dagegen unternommen. Doch mithilfe engagierter Initiativen und einiger großer Sponsoren konnte eine Sozial- und Bildungsarbeit aufgebaut werden, die den Menschen im Viertel ein wenig Hoffnung und Perspektive zu vermitteln vermochte. Die Gäste vom WUPJ-Kongress brachten als Gastgeschenke Kinderbücher, CDs und Videos für die bislang dürftig ausgestattete Bibliothek der Favela mit.

Tikkun Olam Dem programmatischen Anspruch der »Solidarität« oder »Tikkun Olam« (Verbesserung der Welt) widmeten sich weitere Gruppen. Eine stellte in Gemeinschaft mit einer jüdischen Schülergruppe einen Aspekt der Geschichte Brasiliens vor, der nur wenig bekannt ist. Auf dem jüdischen Friedhof im Stadtteil Inhauma wurden jüdische Sklavinnen aus armen Familien Österreichs, Polens und Russlands beerdigt. Schlepperorganisationen hatten sie Ende des 19. Jahrhunderts nach Brasilien gebracht und sie in die Prostitution gezwungen.

Da sie für die vorhandenen jüdischen Friedhöfe nicht zugelassen waren, sammelten die Frauen für einen eigenen und gründeten überdies als erste in Rio einen Beerdigungsverein, eine Chewra Kadischa. Der Friedhof wird bis heute selten besucht. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde hier in Anwesenheit eines Minjans aus aller Welt Kaddisch gesagt.

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