Grossbritannien

Jeden Penny zweimal umdrehen

In Stoke Newington am Rand des orthodoxen Londoner Viertels Stamford Hill liegt, versteckt in einer Gewerbehalle, ein kleiner Supermarkt. Von außen weist nichts darauf hin, dass man hier Lebensmittel kaufen kann. An der Tür steht der Name einer Firma, die früher hier ihren Sitz hatte. Niemand beabsichtigt, das alte Schild abzunehmen – im Gegenteil, für den Supermarkt gibt es weder Werbung noch eine Telefonnummer, geschweige denn einen Eintrag im Internet. Dennoch drängen sich orthodoxe Männer und Frauen in dem Geschäft – und das nicht nur zur Haupteinkaufszeit, sondern auch an einem ganz gewöhnlichen Mittwochnachmittag.

Ganz ähnlich sieht es im »Kosher Outlet« aus, einem vergleichbaren Supermarkt in Hendon im Norden Londons. Der Geschäftsführer erklärt, warum es auch hier keine Werbung gibt. »Der Laden wird nur mündlich weiterempfohlen«, sagt er. Der kleine Supermarkt ist, genau wie jener in Stoke Newington, eine Einrichtung, die koscheres Essen, ohne Gewinn zu machen, an bedürftige Juden weiterverkauft. Weil die Belegschaft ehrenamtlich arbeitet und in großen Mengen einkauft, können die koscheren Lebensmittel zu Niedrigpreisen weitergereicht werden. So kostet zum Beispiel ein ganzes Huhn umgerechnet nur fünf Euro.

Da etliche Gemeindemitglieder auf solche Hühnchen angewiesen sind, haben der Investmentberater Anthony Tricot – er sitzt im Vorstand einer sefardischen Synagoge – und die Ökonomin Andrea Silberman kürzlich eine private Studie erstellt: Sie haben ausgerechnet, dass das Leben für Juden in Großbritannien viel teurer ist als für Nichtjuden. Besonders markant seien diese Extrakosten in London, so die Studie. Für ihre besondere Art zu leben zahlen religiöse Juden in Großbritannien jedes Jahr umgerechnet fast 16.000 Euro mehr als Nichtjuden – auch, weil koschere Lebensmittel durchschnittlich doppelt so viel kosten wie nicht koschere.

Spenden Manchen ist selbst das Huhn im Kosher Outlet zu teuer. Um ihnen zu helfen, gründete Michelle Barnett vor einigen Jahren die Organisation JGift. Sie versorgt inzwischen mehr als 2000 Menschen pro Woche kostenlos mit Lebensmitteln. Die Spenden dafür kommen aus jüdischen Lebensmittelgeschäften. Doch nicht nur das, was am Ende des Tages übrig bleibt oder demnächst verfällt, wird abgegeben, sondern es gibt auch direkte Spenden, die Käufer am Ende ihrer wöchentlichen Einkäufe in einen speziellen Container legen können. In einem Brief berichtet eine Mutter, wie sie am Freitagabend dank JGift das erste Mal seit Langem wieder Fleisch auf den Tisch bringen konnte.

Seit Beginn der massiven Sparpolitik, der Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen ist in Großbritannien der Bedarf an sogenannten Food Banks – in Deutschland nennt man sie »Tafeln« – pro Jahr um 19 Prozent gestiegen. Für 1,1 Millionen Menschen waren diese Essensausgaben im vergangenen Jahr lebensnotwendig.

»Religiöse Juden trifft die Armut in der Regel noch schlimmer als andere«, sagt Barnett. »Sie können nicht zu jeder Tafel gehen, weil sie ja auf koscheres Essen angewiesen sind.« Und das, betont sie, »ist gleichzeitig auch ein Problem für uns, denn wir können nicht alle Lebensmittel annehmen, sondern müssen auswählen. Und so bekommen wir viel weniger als andere Organisationen«.

freiwilligeneinsatz Die insgesamt 350 Freiwilligen bei JGift helfen aber nicht nur bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Bedürftige Familien, vor allem alleinstehende Frauen mit Kindern, werden auch bei der Betreuung unterstützt. JGift bietet jungen Leuten die Möglichkeit, sich mit einem Freiwilligeneinsatz für die Armen in der Community zu engagieren.

Die Studie von Tricot und Silberman zeigt zwar auch, dass Juden im Vereinigten Königreich überdurchschnittlich gut verdienen. Doch die Ausgaben für Wohnen gehören in London, wo die meisten jüdischen Briten leben, zu den höchsten weltweit. Hinzu kommen nicht nur die Kosten für koscheres Essen, sondern auch die für die Mitgliedschaft in einer Synagoge, für die jüdische Erziehung und für Simches, Familienfeiern. Nicht alle können da mithalten. Rund 40 Prozent der charedischen Juden in London sind laut Abraham Pinter, einem Sprecher der orthodoxen Gemeinschaft in Stamford Hill, so arm, dass sie auf Spenden angewiesen sind, um ein Pessachmahl auf den Tisch zu bringen.

Aber es gibt auch das andere Extrem: Ein Veranstalter jüdischer Feste teilte kürzlich mit, dass es unter wohlhabenderen Familien den Trend gebe, bei Simches nicht zu sparen. Die Kosten – und auch die Erwartungen – seien in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. »Es geht nicht mehr nur ums Essen oder um Entertainment, sondern um Dinge wie die ideale Beleuchtung und eine Starbesetzung statt einer Ein-Mann-Band.« Hinzu komme, dass die Räumlichkeiten für Feste in Städten wie London ohnehin viel teurer als anderswo sind. »Manchmal frage ich mich, ob einer Familie Jahre später nicht Zweifel kommen, ob es die 250.000 Pfund (331.000 Euro) für die Barmizwa wirklich wert waren«, bemerkt er. Dieser Trend sei jedoch nichts besonders Jüdisches, sondern vielmehr eine Facette des Reichtums in der Londoner Oberschicht.

Auflagen Abraham Pinter kennt das Problem. In zahlreichen chassidischen Gruppen bestünden deshalb strikte Auflagen für Festlichkeiten, sowohl für die Anzahl der Gäste, die eingeladen werden, als auch für die Kosten. Und für orthodoxe Familien, die sich selbst eine moderate Heirat nicht leisten können, gebe es Hilfsfonds in den Gemeinden, sagt Pinter.

Um den Unterschied in der Höhe der Lebenskosten zwischen Juden und Nichtjuden zu verringern, könnten jüdische Organisationen durchaus mehr tun, heißt es in dem Bericht von Tricot und Silberman. So wäre zu überlegen, ob sich Synagogen nicht stärker zusammentun sollten, zum Beispiel im Bereich der Bildung und Erziehung. Tricot und Silberman wünschen sich außerdem, dass die Gemeinden mit Großlieferanten zusammenarbeiten, um Lebensmittel, die ohnehin koscher sind, nicht noch extra als koscher zu zertifizieren, denn das treibe die Preise unnötig in die Höhe.

Tricot und Silberman hoffen, dass die Gemeindevorstände diese Empfehlungen beherzigen. Denn dann könnte es sein, dass künftig weniger Menschen auf Einrichtungen wie JGift und Kosher Outlet angewiesen sind.

Statistik
Jüdische Londoner geben jedes Jahr im Durchschnitt rund 500 Pfund(656 €) für koscheres Fleisch aus und gehen für etwa 1500 Pfund (1987 €) in koschere Restaurants. Die sind in der Regel circa 70 Prozent teurer als andere Lokale. Ihre Synagogenmitgliedschaft lassen sich jüdische Londoner im Durchschnitt 600 bis 800 Pfund (794 bis 1060 €) pro Jahr kosten, und für den Platz an einer jüdischen Schule zahlt man etwa 3000 Pfund (3976 €). Die jährlichen Mehrkosten eines jüdischen Haushalts belaufen sich im Vergleich zu einem nichtjüdischen Haushalt auf rund 12.700 Pfund (15.832 €).
Für eine Hochzeit geben britische Juden im Durchschnitt etwa 55.000 Pfund (72.900 €) aus.

(Quelle: Studie von Anthony Tricot und Andrea Silberman)

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