Polen

Geschichte vor Gericht

Wollen »den guten Ruf des Landes« verteidigen: Teilnehmer einer Demonstration fordern »Stoppt das Antipolentum! Verteidigt die Wahrheit!« (Warschau, 2019) Foto: picture alliance / PAP

Immer wieder werden in Polen Historiker, Filmemacher und Journalisten bezichtigt, den »guten Ruf Polens« ruinieren zu wollen, wenn sie über Nazi-Kollaboration im deutsch besetzten Polen berichten. Barbara Engelking und Jan Grabowski, zwei renommierte Holocaust-Forscher, müssen sich für ein paar Textzeilen und zwei Fußnoten seit einigen Monaten in Warschau sogar vor einem Gericht verantworten. Dabei zählt das von ihnen herausgegebene zweibändige Mammutwerk Dalej jest noc. Losy Zydów w wybranych powiatach okupowanej Polski (Und immer noch ist Nacht. Die Schicksale von Juden in ausgewählten Kreisen des besetzten Polens) weit über 1000 Seiten.

Im Juni 2019, ein Jahr nach Erscheinen der neun Lokalstudien zu jüdischen Überlebensstrategien in der ostpolnischen Provinz, verklagte Filomena Leszczynska, die heute über 80-jährige Nichte des damaligen Dorfschulzen von Malinowo, die Wissenschaftler wegen Verleumdung ihres Onkels. Er sei ein »Gerechter unter den Völkern« gewesen, also ein Judenretter, nicht aber ein Juden-Verräter und Nazi-Kollaborateur.

Leszczynska fordert von Engelking und Grabowski eine öffentliche Entschuldigung und umgerechnet 23.000 Euro Schadensersatz für den Angriff auf den guten Ruf ihrer Familie und den der polnischen Nation. Das Urteil soll am 9. Februar fallen.

»VOLKSVERRÄTER« Keine Skrupel, die beiden Forscher vorzuverurteilen, haben rechte Medien und Internetportale, das Staatsfernsehen TVP und Stiftungen wie die »Reduta – Festung des guten Namens«. Sie sowie zahlreiche Internet-User hetzen seit Jahren gegen Wissenschaftler und Journalisten, die mit dem Holocaust-Forschungszentrum rund um die Soziologin Barbara Engelking in Warschau verbunden sind. Sie seien »Geschichtsfälscher«, »Volksverräter«, »linkes Lumpenpack« und Befürworter einer »polnischen Schampädagogik«.

Die Rechten ärgert, dass die beiden Wissenschaftler Geschichtsmythen zerstören.

Was die Rechten so sehr ärgert, ist, dass die beiden gleich mehrere Geschichtsmythen zerstören. Die Aufteilung der Gesellschaft in »My i Oni« (Wir, die Guten, und die, die Bösen), die noch aus dem 19. Jahrhundert stammt, als Polen preußische, russische und österreichische Staatsbürger waren, half der Nation zwar, die staatenlose Zeit der Teilungen des Landes zu überdauern, hatte aber mit den historischen Fakten nicht viel gemein.

Als Mythen erwiesen sich auch der polnische »Christus der Nationen«, der angeblich eines Tages von den Toten auferstehen und den anderen geknechteten Nationen die Freiheit zurückbringen würde, sowie die von vielen Polen über Jahrzehnte gepflegte eigene Identität als ewige »Helden und Opfer« der Geschichte.

Als besonders schmerzlich erwies sich für viele die durch historische Quellen belegte Tatsache, dass es unter den Polen auch Täter und sogar Nazi-Kollaborateure gab, ebenso wie unter den Ukrainern, Russen, Franzosen, Litauern, Letten, Belarussen und anderen Nationen. Die Pogrome, die katholische Polen 1941 an ihren jüdischen Nachbarn verübten, sind ein besonders schwarzes Kapitel in der Geschichte Polens. Zugleich bestreitet niemand, dass es Deutsche und Österreicher waren, die den Massenmord an sechs Millionen Juden Europas verübten.

SCHMALZOWNIKS Im Buch Dalej jest noc schildern Historiker am Beispiel von neun Landkreisen und Zehntausenden Einzelschicksalen, welche Überlebenschancen Juden und Jüdinnen hatten, denen es gelungen war, aus Ghettos und KZs zu fliehen. Manche katholisch-polnische Bauersfamilie bot Schutz und Hilfe an, doch viele Landsleute der polnischen Juden lehnten jegliche Hilfe aus Angst vor den deutschen Besatzern und polnischen »Schmalzowniks« ab, die Juden (und ihre Beschützer) nur gegen Schutzgeld nicht an die Gestapo oder SS verrieten, dies aber doch taten, sobald kein Geld mehr floss.

Die Textstelle im Buch Dalej jest noc, über dessen Wahrheitsgehalt nun das Warschauer Bezirksgericht entscheiden soll, lautet:

»Estera Drogicka (aus dem Haus Sie­mia­tycka), die Papiere von einer Belarussin gekauft hatte, entschied sich nach dem Verlust ihrer Familie (Fußnote 396), nach Preußen zu fahren, um dort zu arbeiten. Dabei half ihr der Dorfschulze von Malinowo, Edward Malinowski (der sie bei der Gelegenheit bestahl). Im Dezember 1942 kam sie nach Rastenburg (heute Ketrzyn), wo sie bei der deutschen Familie Fittkau als Haushaltshilfe arbeitete. In Rastenburg lernte sie nicht nur ihren zweiten Mann kennen (einen Polen, der dort ebenfalls arbeitete), sondern begann auch, mit Waren zu handeln. Sie schickte Malinowski Pakete mit Waren, die dieser verkaufen sollte.
Als sie Urlaub hatte und «nach Hause» fuhr, besuchte sie Malinowski. Obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass er mitschuldig am Tod von über 20 im Wald versteckten Juden war, die den Deutschen ausgehändigt worden waren, machte sie im Nachkriegsprozess gegen ihn eine Falschaussage und sprach sich zu seinen Gunsten aus (Fußnote 397).«

erklärung Das Problem: Im Dorf Malinowo gab es mehrere Malinowskis und auch mindestens einen weiteren Edward Malinowski. In einer zehnseitigen Erklärung, die Engelking vergangene Woche im Internet publizierte, bekannte sie, die beiden Malinowskis irrtümlich für eine Person gehalten zu haben. Denn der Malinowski, mit dem die Jüdin und Zwangsarbeiterin Estera Drogicka korrespondierte und handelte, war der andere Malinowski – also nicht derjenige, der ihr das Leben gerettet, aber über 20 Juden an die Deutschen verraten hatte.

Insofern hat die Ineinssetzung der beiden Malinowskis nicht zu einer Rufschädigung des einstigen Dorfschulzen geführt. Genau dies aber behauptet die betagte Klägerin, die finanziell und medial von der rechtsnationalen Stiftung »Reduta – Festung des guten Namens« unterstützt wird.

GERICHTSAKTEN Im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass Engelking nicht nur die Gerichtsakten des Nachkriegsprozesses gegen den Dorfschulzen kannte – sie hatte sie auf Seite 150 in der Fußnote 397 zusammengefasst –, sondern auch ein mehrstündiges Interview, das die gerettete Jüdin im Jahr 1996 der Shoah-Stiftung in den USA gab. Dort schilderte sie, dass sie während des Krieges mit zwei Edward Malinowskis in Kontakt stand, bekannte aber auch, dass ihre damalige Aussage vor Gericht eine Falschaussage gewesen sei.

Das Urteil gegen die Wissenschaftler soll am 9. Februar fallen.

Die historischen Hintergründe des damaligen Freispruchs von Malinowski beschrieb dieser Tage das Portal für investigativen Journalismus Oko.Press: »Im Jahr 1949 wurde der Dorfschulze Malinowski von mehreren Dorfbewohnern verschiedener Verbrechen bezichtigt, darunter auch des Verrats von Juden im Jahr 1943 sowie der Zusammenarbeit mit der Gruppe der ›Schwalbe‹.« Dies war eine Partisanengruppe, die das Kriegsende nicht akzeptieren wollte und heute offiziell – zusammen mit anderen Kämpfern – als »verfemte Soldaten« gefeiert wird.

»Zwei Tage, nachdem der Termin für die nächste Verhandlung festgelegt wurde«, schreibt Oko.Press weiter, »kam die ›Schwalbe‹-Gruppe ins Dorf. Der Dorfschulze saß damals im Untersuchungs­gefängnis, aber seine Frau und sein Sohn gaben die Namen derjenigen preis, die den Dorfschulzen angezeigt hatten. Unter ihnen war auch der zweite Edward Malinowski. Er wie auch einige Nachbarn wurden schwer verprügelt, der Feldscher aber, der ihre Wunden versorgte, wurde am Tag darauf ermordet.«

Man müsse sich daher nicht wundern, so fasst Oko.Press zusammen, »dass die Zeugen der Anklage ihre vorherigen Aussagen im Prozess nicht aufrechterhielten«. So wurde der Dorfschulze Malinow­ski freigesprochen.

solidaritätserklärungen Inzwischen haben die Historiker-Gesellschaft Israels, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die Gesellschaft des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau sowie das Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN Solidaritätserklärungen für Barbara Engelking und Jan Grabowksi abgegeben. Historische Fehler seien im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs zu benennen und auszuräumen, nicht aber vor Gericht. Dies gefährde jede weitere Forschung.

Grabowski selbst schrieb auf Facebook: »Sollten wir schuldig gesprochen werden, hätte dies enorme Auswirkungen darauf, wie Historiker künftig über ›schwierige‹ Themen schreiben werden.«

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