Haushalt

Milliarden für die Charedim

Demonstranten protestierten in Bnei Brak gegen das deutlich erhöhte Budget unter anderem für ultraorthodoxe Bildungsstätten. Foto: Flash 90

Schawuot – für viele religiöse Juden in Israel bedeutet das: eine durchwachte Nacht in der Synagoge, stundenlanges Studium der heiligen Schriften, Debatten über Tora- und Talmudpassagen. Die meisten säkularen Israelis dagegen verbinden mit dem Fest profanere Genüsse, vornehmlich den Verzehr käsegefüllter Blintzes. Ein- und dasselbe Fest wird im ultraorthodoxen Bnei Brak völlig anders begangen als im benachbarten Tel Aviv, eine soziokulturelle Spaltung, die für sich betrachtet harmlos erscheinen mag.

Doch sie ist eines der Symptome für die tiefe Kluft zwischen den Ultraorthodoxen, in Israel Charedim genannt, und den Säkularen; zwei Bevölkerungsgruppen, die nicht nur an Schawuot, sondern auch an den übrigen Tagen des Jahres wenige Berührungspunkte haben. Und in diesen angespannten Tagen, in denen selbst seriöse Beobachter wie Israels Staatspräsident Isaac Herzog vor einem Bürgerkrieg warnen, wird diese Kluft noch deutlicher.

massenproteste Denn längst geht es bei den wöchentlichen Massenprotesten nicht mehr allein um die geplante Justizreform der Regierung, die Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Ende März vorübergehend auf Eis gelegt hat. Bei den jüngsten Demonstrationen in Tel Aviv sprachen viele derjenigen, die auf der Kaplanstraße vor Tausenden Protestierenden aufs Podium traten, über den Staatshaushalt, den die Regierungskoalition schließlich nach einer turbulenten Sitzung am frühen Mittwochmorgen mit 64 zu 55 Stimmen verabschiedete – und der signifikant erhöhte Zuwendungen für die ultraorthodoxe Minderheit beinhaltet.

Fast 14 Milliarden Schekel (3,5 Milliarden Euro) hatte Netanjahu bereits im Vorfeld den beiden ultraorthodoxen Parteien versprochen, die seiner rechts-religiösen Koalition angehören. Diese sind in der Knesset nun beschlossen worden. Zum Vergleich: Der Etat für sämtliche Einrichtungen für höhere Bildung in Israel beläuft sich auf insgesamt 12,5 Milliarden Schekel im Jahr, wie der israelische Biologe und Nobelpreisträger Aaron Ciechanover kürzlich in einem Artikel für die linksliberale Zeitung »Haaretz« nachrechnete.

Mit dem zusätzlichen Geld für die Strenggläubigen sollen unter anderem die Zuwendungen an ultraorthodoxe Schulen erhöht werden, die keine säkularen Inhalte unterrichten, sowie die Stipendien für ultraorthodoxe Männer, die ihr Leben dem Tora- und Talmudstudium widmen, beinahe verdoppelt werden: von bislang 600 Schekel (152 Euro) auf 1173 Schekel (297 Euro). »Dies ist ein guter Haushalt, er wird den Bürgern Israels dienen«, sagte Finanzminister Bezalel Smotrich nach der Abstimmung. Kritiker jedoch werfen Benjamin Netanjahu vor, zu weit gegangen zu sein, um die ultraorthodoxen Parteien zu beschwichtigen, und zwar auf Kosten der Allgemeinheit.

WIDERSTAND Dagegen formiert sich derzeit erheblicher Widerstand, der ein ähnliches Ausmaß annehmen könnte wie der Protest gegen die Justizreform. So verfassten 280 israelische Ökonomen kürzlich einen Brief an die Regierung, in dem sie warnen, dass der Staatshaushalt »der Wirtschaft Israels und seiner Zukunft als wohlhabendes Land erheblichen und langfristigen Schaden zufügen wird«. Die erhöhten Zuwendungen für ultraorthodoxe Bildungsstätten, in denen keinerlei säkulare Materialien gelehrt werden, »werden Israel auf lange Sicht von einem fortgeschrittenen und wohlhabenden in ein rückständiges Land verwandeln, in dem es einem großen Teil der Bevölkerung an grundlegenden Fähigkeiten für das Leben im 21. Jahrhundert mangelt«.

Zu den Unterzeichnern gehören Eugene Kandel, ein früherer Wirtschaftsberater Netanjahus, sowie diverse ehemalige Berater und hochrangige Mitarbeiter des Finanzministeriums. Um die Dringlichkeit der Warnung zu begreifen, lohnt der Blick auf einige Zahlen. Derzeit macht die ultraorthodoxe Minderheit rund 13,5 Prozent der israelischen Bevölkerung aus.

Weil die Charedim große Familien haben und ihre Frauen durchschnittlich sieben Kinder zur Welt bringen, dürfte der Anteil der Ultraorthodoxen bis 2065 auf rund ein Drittel steigen. Derzeit arbeiten nur 50 Prozent der ultraorthodoxen Männer, und auch das oft in Berufen, die eine geringe Qualifizierung erfordern und entsprechend schlecht bezahlt sind. Von jenen ultraorthodoxen Männern, die trotz ihrer eingeschränkten säkularen Schulbildung versuchen, ein akademisches Studium zu beginnen, brechen zwei Drittel es wieder ab.

PRIVATSCHULEN Das liegt vorrangig daran, dass ein Großteil ultraorthodoxer Kinder private religiöse Schulen besucht und an einem erheblichen Teil dieser Schulen Fächer wie Mathematik, Naturwissenschaften oder Geschichte nur marginal oder überhaupt nicht gelehrt werden. Offiziellen Daten zufolge besuchten im Jahr 2020 gut die Hälfte der ultraorthodoxen Jungen Grundschulen und 84 Prozent der ultraorthodoxen Jungen weiterführende Schulen in dieser Kategorie.

Bislang erhielten Schulen, die nicht wenigstens den sogenannten Kernlehrplan an säkularen Fächern in ihren Unterricht integrieren, nur wenige staatliche Zuwendungen; so wollten frühere Regierungen die Charedim ermutigen, stärker auf säkulare Bildung zu setzen. Der neue Staatshaushalt jedoch weist höhere Zuwendungen für Schulen mit rein religiösen Unterrichtsfächern aus – womit der Anreiz, säkulare Inhalte zu unterrichten, verloren geht.

Ökonomen drängen seit Jahren darauf, die Charedim stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und viele halten eine Reform des ultraorthodoxen Bildungssystems für unumgänglich. Der neue Staatshaushalt hingegen setzt Anreize, die das Gegenteil bewirken dürften. »Wir kämpfen um die Zukunft Israels«, meint der Ökonom Dan Ben-David von der Universität Tel Aviv, der zudem das von ihm gegründete Forschungsinstitut »Shoresh« leitet. Seit Jahren warnt er vor einem drohenden Desaster, sollten Reformen der ultraorthodoxen Schulen ausbleiben.

Schawuot offenbart die soziokulturelle Spaltung zwischen Charedim und Säkularen.

Israels derzeitige wirtschaftliche Stärke nämlich beruhe auf einer kleinen Minderheit von Wissenschaftlern, Ärzten, Programmierern und Ingenieuren. Der viel bewunderte Hightechsektor etwa ist zwar für über die Hälfte aller israelischen Exporte zuständig – beschäftigt jedoch nur gut ein Zehntel aller Arbeitnehmer. »Es müssen nur ein paar Zehntausend aus dieser kleinen Gruppe das Land verlassen«, sagt Ben-David, »und wir haben ein riesiges Problem.«

DEBATTE Bisweilen nimmt die Debatte schrille Töne an. Die TV-Moderatorin Galit Gutman löste vergangene Woche einen kleinen Skandal aus, indem sie vor laufender Kamera behauptete, die Charedim »saugen unser Blut«. Nach heftiger Kritik entschuldigte sie sich dafür.

Am Mittwoch vergangener Woche organisierten Kritiker der Zuwendungen an die Charedim einen Protestmarsch in die ultraorthodoxe Stadt Bnei Brak. Befürchtete Zusammenstöße blieben weitgehend aus; stattdessen empfingen Anwohner die Demonstranten mit Snacks und Getränken. Doch die friedlichen Szenen können nicht hinwegtäuschen über den grundlegenden Konflikt, der beide Gruppen trennt – und dessen Brisanz in den kommenden Jahren nur steigen dürfte.

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