Radsport

»Geliebt und manchmal gehasst«

André Greipel Foto: imago images/Panoramic International

Nach 17 Jahren im Profiradsport startet André Greipel seine Abschiedstour. Die am Donnerstag beginnende Deutschland Tour führt den 39-Jährigen sogar in seine alte Heimat. Im Interview spricht der elfmalige Tour-de-France-Etappensieger über seine lange Karriere, die Zukunft und die Situation im deutschen Radsport.

Herr Greipel, wie groß ist die Vorfreude, zum Ende Ihrer Karriere bei der Deutschland Tour eine Etappe quasi vor der eigenen Haustür zu bestreiten?
Das gab es ja noch nie, dass in meiner Heimat ein professionelles Rennen stattfindet. Es ist schon schön, dass oben im Norden eine Etappe ausgetragen wird. Ich kenne hier jede Straße.

Es winkt zum Auftakt auch eine Sprintankunft. Ein Etappensieg wäre da sicher ein Traumszenario.
Träume hat man viele. Ich werde mein Bestes geben.

Sie werden wie bei der Tour zusammen mit dem viermaligen Tour-Champion Chris Froome in Ihrem Team starten. Was ist von ihm zu erwarten?
Ich hoffe, dass er seine Tour verkraftet hat. Es war eine sehr schwere Tour für ihn mit dem Sturz am ersten Tag. Mal gucken, auf welchem Niveau er sein wird. Aber für die Deutschland Tour ist es schön, dass ein Chris Froome dort am Start steht.

Radrennen in Deutschland sind auch wegen der Corona-Pandemie eine Seltenheit geworden. Ist die viertägige Rundfahrt daher umso spezieller?
Es ist in der jetzigen Phase alles ein bisschen komisch, wenn man sieht, dass Hamburg abgesagt wurde und vier, fünf Tage später die Deutschland Tour stattfindet. Von daher müssen wir froh sein, dass die Rennen überhaupt stattfinden.

Ihr Vertrag beim Team Israel Start-Up Nation wäre noch bis 2022 gelaufen. Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie bereits zum Ende der Saison aufhören?
Ich habe das noch nie an Verträgen oder Jahreszahlen festgemacht. Viele haben mir gesagt, dass man den Moment des Aufhörens spürt. Das habe ich in diesem Jahr gespürt.

Aus Leistungsgründen hätten Sie nicht aufhören müssen.
An der Leistung liegt es nicht, auch nicht an der Einstellung zum Training. Das mache ich weiterhin sehr gerne. Aber mit 39 Jahren kann man dem Ganzen nicht mehr weglaufen. Das Leben besteht nicht nur aus Radsport und Rennen fahren. Ich habe noch einmal zwei Rennen gewonnen dieses Jahr. Ich bin da ganz ehrlich. Das hat mich nicht mehr sehr viel angemacht. Das war für mich auch ein Zeichen zu sagen: ›Okay, jetzt reicht es.‹ Dass man darüber nachdenken sollte, das Ganze sein zu lassen.

Woran machen Sie das konkret fest?
Ich habe vor dieser Saison zwei Jahre wenig bis gar nichts gewonnen. Deswegen hatte ich für mich den Anspruch, wieder Rennen gewinnen zu wollen. Das hat in diesem Jahr geklappt. Aber aus irgendeinem Grund hat mich das nicht mehr geflasht. Andere haben sich mehr gefreut als ich selber. Es war schön, dieses Jahr einen guten Abschluss zu haben. Auch das Umfeld, die Mannschaft hat gestimmt. Ich hatte mit Rick Zabel einen sehr guten Anfahrer. Man muss aber auch registrieren, dass man mit 39 Jahren öfter bremst und Risiken aus dem Weg geht, auch wenn die Wattwerte dieselben sind.

Ist der Radsport gefährlicher geworden?
Radsport war schon immer gefährlich. Auch die Tour war schon immer so. Es gab noch keine Tour de France, die ich gefahren bin, wo es in der ersten Woche keine Stürze gab. Das gehört leider dazu.

Haben Sie sich bei der Tour bewusst aus dem Chaos rausgehalten?
Im Unterbewusstsein ist das bestimmt so. Trotzdem habe ich die Risiken genommen und mein Bestes gegeben. Das hat bei der Tour nicht mehr zu sehr vielen vorderen Plätzen gereicht. Es war eine solide Leistung. Die jungen wilden Talente drücken und wollen ihre Plätze haben. Da muss man mit 39 Jahren realistisch in die Zukunft blicken und den Platz frei machen.

Was passiert nach der Karriere? Ein Job als Sportdirektor?
Dann bin ich wieder unterwegs. Dann bräuchte ich nicht aufhören. Ich möchte auch mal gerne zu Hause bleiben und nicht wieder durch die Gegend reisen. Ich werde keinen Cut machen. Ich werde dem Radsport erhalten bleiben, aber mit einem überschaubaren Pensum.

Was bleibt hängen nach 17 Profijahren?
Vieles. Ich kenne den Radsport, seit ich zehn bin. Die letzten 29 Jahre haben mit mir sehr viel gemacht. Ich habe den Radsport gelebt, geliebt und manchmal auch gehasst. Es ist eine Lebenseinstellung gewesen. Mal gucken, wie diese Lebenseinstellung ohne den Radsport vorangeht. Es wäre ein Wunder, wenn ich sage: ›Ich möchte gar nichts mehr mit dem Radsport zu tun haben.‹ Das wird nicht der Fall sein. Ich werde noch viel Fahrrad fahren, aber ohne Leistungsdruck.

Welche Momente bleiben in Erinnerung?
Wir sind ja nicht eine Mannschaft gewesen. Wir waren immer mit vielen Freunden unterwegs. Jedes Rennen war wie eine Klassenfahrt. Das hat immer Spaß gemacht. Dieses ›an die Grenze‹ gehen, ist auch eine Sucht geworden. Das ist auch ein gewisser Hormonausschub, der dort passiert. Dass man ein bisschen von der Sache abhängig wird, brauche ich keinem zu erzählen. Wenn man den Sport lebt, hat man sich auf so etwas immer gefreut.

Welche Siege haben einen besonderen Ehrenplatz?
Die Etappensiege bei der Tour waren alle speziell, aber auch andere Rennen, die ich gewinnen konnte. Ich bin aber immer derselbe Rennfahrer und Mensch geblieben. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich meinen Weg gegangen bin.

Wie gefällt Ihnen das Format der Deutschland Tour mit den vier Etappen?
Weniger ist manchmal mehr. Besser vier Etappen als keine Deutschland Tour. Das Konzept ist schön mit den Zielrunden und dem Plan, das Publikum mit einzubeziehen. Vor dem Herbst und der WM ist es ein guter Moment, wann die Deutschland Tour im Kalender stattfindet.

Ist Deutschland reif für eine längere Rundfahrt wie in früheren Jahren?
Mit Sicherheit. Das wird es auch in Zukunft geben. Es ist die Vision einer Deutschland Tour, die über eine Woche geht.

Sie und Marcel Kittel haben Deutschland viele Jahre mit vielen Siegen verwöhnt. Wo bleiben die nächsten Topsprinter?
Pascal Ackermann hat letztes Jahr das Sprinttrikot beim Giro gewonnen. Er ist bei allen Sprints irgendwo mit dabei. Wenn man Zweiter oder Dritter wird, ist man trotzdem noch ein Topsprinter. Es kann nur einer gewinnen. Ich sehe in Deutschland doch den einen oder anderen Sprinter.

Trotzdem scheint es in der Breite weniger deutsche Spitzensprinter zu geben.
Man kann nur mit dem arbeiten, was einem Mutter Natur mitgibt. Das sind nun einmal die schnellen Muskelfasern. Wenn die Talente damals nicht so erkannt und gefördert wurden, sind weniger Sprinter da. Es herrscht aber auch eine große Leistungsdichte im Sprint.

Gibt es generell ein Nachwuchsproblem im Radsport?
Da kann man jede Sportart nehmen. Im Nachwuchsbereich ist oft nicht mehr der Wille da, sich zu quälen. Das ist geringer geworden als bei uns damals. Handys, Playstation und so weiter machen ihr Übriges, das dazu führt, dass Kinder manchmal gar nicht mehr dem Sport nachgehen.

Bei Olympia gab es die schlechteste Ausbeute für Deutschland seit der Wiedervereinigung.
Das System der Zentralisierung ist manchmal nicht so förderlich. Ich bin selbst Familienvater. Ich würde mich auch schwer tun, meine 13-, 14-jährige Tochter wegzugeben in irgendeine Sportschule. Da kann man auch Elternteile verstehen. Schade, dass kleinere Clubs noch kleiner werden und Trainerposten verlieren.

Welche Rennen stehen noch in Ihrem Rennkalender?
Der Plan ist, dass ich die Tour of Britain fahre, dann Frankfurt. Es kann sein, dass Frankfurt mein letztes Rennen ist, vielleicht auch Paris-Roubaix oder der Münsterland-Giro. Da haben wir noch nicht wirklich einen Punkt gefunden.

Zur Person: André Greipel (39) steigt nach 17 Profijahren zum Saisonende vom Rad. Der gebürtige Rostocker gewann in seiner Karriere elf Etappen bei der Tour de France und ist mit 158 Profisiegen der erfolgreichste deutsche Fahrer.

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